Es entspricht ganz der Stimmung, in der wir heute uns hier vereinigt haben -der Stimmung pietätvoller Erinnerung an den Mann, der vor 50 Jahren zu allem, was jetzt uns vor Augen steht, den Grund gelegt hat - daß die Antwort auf diese Frage sofort die Bedeutung des persönlichen Wirkens von Carl Zeiss, der von ihm getragenen Ideen aufdeckt -und so ihn gleich in den Mittelpunkt unserer Betrachtung rückt.
Schon vor acht Jahren, als wir den Begründer unserer Werkstätte zu Grabe geleiteten, habe ich an seinem Sarg in kurzen Worten ausgesprochen[5], daß in ihm ein Mann geschieden sei, in dessen Wirken ein neuer eigenartiger Gedanke Anfang und Vollendung gefunden hat; und bei einem späteren Anlaß[6] wurde im Sinne dessen als sein bleibendes Verdienst hingestellt: das geordnete Zusammenwirken von Wissenschaft und technischer Kunst auf seinem besonderen Arbeitsfeld zielbewußt angebahnt zu haben.
Der heutige Tag gibt nunmehr die Gelegenheit, dieses zu erläutern, näher zu bestimmen und auch öffentlich zu rechtfertigen.
Zusammenwirken von Wissenschaft und technischer Kunst ist in der Optik allerdings eine sehr alte Sache. Denn auf ihrem Gebiet hat die praktische Arbeit schon viel früher wie auf fast allen anderen Gebieten der Technik in direkter Wechselwirkung mit wissenschaftlichen Ideen und unter deutlicher Leitung solcher gestanden. Die nahe Beziehung aller Leistungen der praktischen Optik auf große wissenschaftliche Interessen -zu allererst der Astronomie -brachte dieses von selbst mit sich. Das Interesse an der Vervollkommnung der Beobachtungswerkzeuge hat fast alle hervorragenden Förderer der Naturerkenntnis auch zu Förderern der Künste gemacht, die auf Herstellung der Beobachtungswerkzeuge und deren Vervollkommnung ausgehen. Man braucht nur KEPLER und NEWTON zu nennen, um markiert zu sehen, wie jeder Fortschritt in der wissenschaftlichen Erkenntnis der Eigenschaften und Wirkungen des Lichts immer unmittelbar die Betätigung praktischer Kunst zur Verwertung solchen Fortschrittes neu angeregt hat. So sind seit fast drei Jahrhunderten alle neuen Zielpunkte dieser Betätigung bewußterweise aus der wissenschaftlichen Lehre der Optik abgeleitet worden, die Mittel und Wege zur Betätigung an der Hand der Doktrin gefunden worden.
Hierbei war aber der praktischen Arbeit des ausübenden Optikers immer noch ein sehr weites Feld verblieben. Die Doktrin wies nur die typischen Formen der Elemente der Konstruktionen nach, die bekannte Linsengestalt der durch kugelförmige Flächen begrenzten Glasstücke, und gab die allgemeinen Direktiven für ihre richtige Kombination für die verschiedenen Zwecke, wie z. B. die Regel für das Zusammenfügen von zwei solchen Glasstücken aus verschiedenem Material behufs achromatischer Lichtsammlung u. dgl. Sache der persönlichen Erfahrung des geschickten Praktikers, seiner Übung in der Beurteilung des erzielten Effekts, seiner Findigkeit in der vorteilhaften Kombination und Abänderung der Elemente, blieb es dabei, die jeweils beabsichtigte Wirkung befriedigend herauszubringen, also ein gutes Fernrohr oder ein gutes Mikroskop nach dem jeweiligen Maßstab der Anforderungen herzustellen; und auch der allmähliche Fortschritt in der Höhe der Leistungen war nur zum geringeren Teil bedingt durch die Verbesserung der technischen Ausführung, in viel höherem Grad durch das Auffinden von vorteilhafteren, besseren Effekt herbeiführenden Kombinationen von Linsen. Je höher die Anforderungen an die Leistung der optischen Instrumente wurden, zu je komplizierteren Zusammensetzungstypen man sich dadurch gedrängt sah, desto größere Bedeutung gewann die persönliche Geschicklichkeit und praktische Begabung des ausübenden Optikers.
Beim Mikroskop hat schon in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts die sich ausbreitende Anwendung des Instruments in der Erforschung der organischen Welt und der hierbei rasch steigende Anspruch an hohe Vergrößerung und vollkommene Bildschärfe, zu allmählich immer verwickelteren Linsenkombinationen geführt, für deren Aufbau den Optikern zwar auch neue Direktiven von theoretischen Gesichtspunkten aus gegeben worden waren, deren erfolgreiche Ausführung an Hand dieser Direktiven aber immer höher werdende Anforderungen an die Kunst stellte. |Namentlich der neue Zusammensetzungstypus, den AMICI auffand -man weiß nicht genau, in welcher Art des Ineinandergreifens von theoretischer Betrachtung und praktischer Erfahrung -der auf die Immersionslinsen hinleitete, hat um die Mitte des Jahrhunderts den Aufbau des Mikroskopobjektivs zu einer Kunst entwickelt, die in ihren besten Vertretern, wie z. B. HARTNACK und einigen anderen, die Betätigung einer ganz eigenartigen Form intuitiven Schaffens zeigt, weil sie Leistungen zustande brachte, von denen damals niemand sich Rechenschaft geben konnte -am wenigsten die ausübenden Personen selbst.|
Carl Zeiss ist, als er, von SCHLEIDEN angespornt, bald nach seiner Niederlassung in Jena der Mikroskop-Optik sich zuwandte, gleichfalls den eben charakterisierten Weg gegangen, und hat zunächst auf diesem, schlecht und recht wie andere vor ihm und andere neben ihm, vorwärts zu kommen gesucht unter Anlehnung an die Vorbilder, die sich ihm in den Leistungen der älteren Meister boten. Kein Geringerer als SCHLEIDEN hat ihm auch bezeugt, daß er nach kurzer Zeit zu sehr bemerkenswerten Erfolgen gelangt ist. Zeiss selbst aber ist, wie er später erzählte, hinsichtlich dieser Erfolge schon sehr früh recht skeptisch gewesen. Er merkte, daß er, als Autodidakt an dieses Arbeitsfeld herangekommen, also ohne Anteil an der Summe von traditioneller Erfahrung, die auf ihm gewonnen war, den anderen gegenüber, die schon [durch] Jahrzehnte hin jene eigenartige Kunst geübt hatten, sehr im Nachteil sei, und als Autodidakt auch frei von allzu großer Verehrung für das traditionell Gegebene fand er bald, daß diese ganze Art des Arbeitens im letzten Grund für die Optik eigentlich höchst irrationell sei. Er sagte sich: da alle Wirkungen, die eine Linsenkombination begleiten, auf Gesetzen beruhen, die durch die wissenschaftliche Optik genau festgestellt, in allen Einzelheiten mathematisch bestimmbar sind, und da auch alle maßgebenden Eigenschaften des wirksamen Stoffes, des Glases, auf das strengste meßbar sind -so muß es für den Aufbau der Linsensysteme jeder Art noch einen ganz anderen Weg geben, um eine verlangte Wirkung mit Sicherheit des Erfolgs herbeizuführen. Es muß auf diesem Gebiet noch eine ganz andere Art des Zusammenwirkens von wissenschaftlicher Lehre und technischer Kunst möglich sein, als bisher bestanden hat; es muß möglich sein, nicht nur die allgemeine Direktive für die zweckmäßige Zusammensetzung der Elemente aus der Theorie zu entnehmen, sondern die richtige Zusammensetzung selbst bis in ihre letzten Einzelheiten für jede verlangte Wirkung. Wie der Architekt ein Bauwerk, bevor eine Hand zur Ausführung sich rührt, schon im Geiste vollendet hat, nur unter Beihilfe von Zeichenstift und Feder zur Fixierung seiner Idee, so muß auch, dachte sich Zeiss, das komplizierte Gebilde von Glas und Metall, wie das Mikroskop es erfordert, sich aufbauen lassen rein verstandesmäßig, in allen Elementen bis ins letzte vorausbestimmt in rein geistiger Arbeit, durch theoretische Ermittlung der Wirkung aller Teile, bevor diese Teile noch körperlich ausgeführt sind. Der arbeitenden Hand dürfe dabei keine andere Funktion mehr verbleiben, als die genaue Verwirklichung der durch die Rechnung bestimmten Formen und Abmessungen aller Konstruktionselemente und der praktischen Erfahrung keine andere Aufgabe, als die Beherrschung der Methoden und Hilfsmittel, die für letzteres, die körperliche Verwirklichung, geeignet sind. - Also: eine andere Grenzregulierung zwischen der Arbeit des Verstandes und der Arbeit der Hand, zwischen wissenschaftlicher Theorie und praktischer Kunst, grundsätzlich verschieden von der früheren Abgrenzung der Funktionen beider. Das nun ist die Idee, die Carl Zeiss in die Mikroskop-Optik eingeführt und über alle Hindernisse hinweg zur Verwirklichung gebracht hat: die Idee eines streng rationalen Aufbaues der optischen Konstruktionen für das Mikroskop; das ist der Keim, aus dem alle inneren Fortschritte und alle äußeren Erfolge, die sein Wirken gebracht hat, hervorgegangen sind. Das soll es besagen, wenn als das Verdienst von Carl Zeiss hingestellt wurde: das geordnete (nämlich das neu_geordnete) Zusammenwirken von Wissenschaft und technischer Kunst auf seinem besonderen Arbeitsfeld zielbewußt angebahnt zu haben.