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Rio knurrte böse vor sich hin, in seinen halb geschlossenen Augen lag ein warnender bernsteingelber Glanz. Aber nicht einmal das wilde Wutgeheul eines halb wahnsinnigen Vampirs konnte Tess davon abbringen, ihm zu helfen, wenn sie dazu in der Lage war. Zweifellos hatte sie dieses widerborstige Verhalten schon öfters an Rio - und wahrscheinlich auch an ihrem eigenen Gefährten - gesehen, und war nicht vor Schreck davongerannt.

Tegan sah Tess zu, wie sie aufrecht, ruhig und beharrlich dastand. Es fiel ihm nicht schwer, sich vorzustellen, warum Dante sie so vergötterte. Aber Tegan konnte auch sehen, dass sich Rio in einem besonders labilen, unberechenbaren Zustand befand.

Er wollte niemandem etwas Böses - und schon gar nicht Tess, deren außerordentliche Heilerinnengabe ihn vor einer Psychose bewahrt hatte -, aber Wut und Verzweiflung waren ein gefährlicher emotionaler Cocktail. Das wusste Tegan aus erster Hand, vor langer Zeit hatte er Ähnliches durchgemacht. Wenn man noch die Nachwirkungen einer traumatischen Gehirnverletzung, wie Rio sie erlitten hatte, dazunahm, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Krieger in die Luft ging wie eine angezündete Stange Dynamit.

„Lass mich das machen“, sagte Tegan, als Tess Anstalten machte, sich Rio erneut zu nähern. „Ich nehme ihn mit runter ins Hauptquartier. Da wollte ich sowieso gerade hin.“

Sie schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln. „In Ordnung.

Danke dir.“

Tegan näherte sich Rio mit zielstrebigen Bewegungen und führte ihn vorsichtig von der Frau fort und aus dem Trümmerfeld hinaus, das sich um ihre Füße ausbreitete. Der große Mann ging mit schweren Schritten, ohne die natürliche Grazie, die er einst besessen hatte. Rio stützte sich schwer auf Tegans Schulter und Arm, sein nackter Oberkörper hob und senkte sich schwer mit jedem Atemzug, den er mühsam in seine Lungen sog.

„So ist’s gut, immer schön langsam“, wies Tegan ihn an.

„Fühlen wir uns schon besser, amigo?“

Der dunkle Kopf nickte unbeholfen.

Tegan sah zu Tess hinüber, wie sie sich hinkniete und anfing, die verstreuten Glas- und Porzellanscherben von den Fliesen des Foyers einzusammeln. „Hast du Chase heute Abend schon gesehen?“

„Schon länger nicht“, meinte sie. „Er und Dante sind immer noch draußen auf Patrouille.“

Tegan verzog spöttisch das Gesicht. Vor vier Monaten waren die beiden Männer einander noch fast an die Kehle gegangen.

Lucan hatte die beiden als unfreiwillige Partner zusammengespannt, als Sterling Chase, Agent der Dunklen Häfen, mit der Neuigkeit von einer gefährlichen Clubdroge namens Crimson im Hauptquartier aufgetaucht war und den Orden um Hilfe gebeten hatte, das üble Zeug von der Straße und aus dem Handel zu bringen. Inzwischen waren er und Dante draußen im Feld praktisch unzertrennlich, seit dem Tag, an dem Chase die Dunklen Häfen verlassen hatte und offiziell dem Orden beigetreten war.

„Die beiden haben schon was von Stan und Ollie, nicht?“

In Tess’ Augen lag Belustigung, als sie von dem Chaos vor ihr auf dem Boden aufsah. „Eher was von Chico und Groucho von den Marx-Brothers, wenn du mich fragst.“

Tegan stieß ein trockenes Lachen aus und steuerte Rio den Korridor hinunter. Er führte ihn zum Fahrstuhl des Anwesens, ging mit ihm hinein und tippte den Sicherheitscode ein, um die Reise zum unterirdischen Hauptquartier des Ordens anzutreten.

Nachdem er Rio in seiner Wohnung im Hauptquartier abgeladen hatte, ging Tegan zum Techniklabor, um sich zurückzumelden. Gideon saß wie üblich auf seinem Posten. Der blonde Vampir rollte auf seinem Bürostuhl hin und her und übte seine Zauberkräfte auf nicht weniger als vier verschiedenen Computerterminals gleichzeitig aus. Ein schnurloses Headset am Ohr, gab er eben eine Reihe Koordinaten über das kleine Mikrofon durch.

Als perfekter Multitasker sah Gideon auf, als Tegan das Labor betrat, winkte ihn zu sich herüber und rief auf einem der Bildschirme eine Reihe Satellitenaufnahmen auf. „Niko hat vielleicht eine Spur zu diesem Crimson-Labor gefunden“, informierte er Tegan und nahm dann sein Telefongespräch wieder auf, während seine Finger über die Tastatur eines anderen Terminals huschten. „Gut. Ich lasse sofort einen Check-up durchlaufen.“

Tegan starrte die Fotos an, die Gideon auf den Schirm gezaubert hatte. Einige waren bekannte Roguenester - die meisten davon ehemalige, dank der Bemühungen des Ordens. Andere Bilder zeigten Rogues und Lakaien, wie sie diverse Örtlichkeiten in und um die Stadt aufsuchten oder verließen. Ein Gesicht fiel Tegan dabei besonders auf. Es war der menschliche Crimson-Dealer, Ben Sullivan.

Obwohl Dante den Bastard im letzten November ausgeschaltet hatte, war der Ort seines Produktionslabors bislang noch unbekannt. Die Probleme mit der Droge hatten in den Monaten, die der Orden sich um die Sache kümmerte, etwas nachgelassen, aber solange die Rogues die Mittel besaßen, mehr von diesem Dreck zu produzieren, war die Bedrohung, dass der Crimson-Konsum unter den Stammesvampiren wieder zunahm, nach wie vor gegeben.

„Warte mal. Ich kriege hier gerade einen Treffer rein. Die Daten passen zu einem Ort in Revere“, sagte Gideon gerade. „Ja, ich schätze, das ist eine heiße Spur. Wollt ihr Jungs eine Spritztour den Chelsea River runter machen und schauen, was ihr da findet?“

Tegan betrachtete das Foto von Ben Sullivans grinsendem, selbstgefälligem Gesicht. Der Typ hatte mit seiner Droge eine Menge junge Vampire auf dem Gewissen, einschließlich Camden Chase, Elises Sohn. Gäbe es Crimson nicht, wäre der Junge nie im Leben zum Rogue mutiert, der abgeschlachtet werden musste. Und eine Frau von Elises Herkunft müsste sich nicht in einem Rattenloch in der Innenstadt verkriechen, außer sich vor Kummer und Wut, völlig besessen von ihrem mütterlichen Rachetrip, der vermutlich auch sie das Leben kosten würde.

Tegan wurde es schwer ums Herz, als er an all das Blutvergießen dachte, all die langen Jahrhunderte, in denen er und die anderen schon diesen Kampf gegen die mutierte Splittergruppe des Stammes ausfochten. Dabei gab es natürlich nicht nur Zeiten höchster Aktivität, sondern auch Flauten - Zeiten, in denen es relativ friedlich zuging, aber die Unruhe war unterschwellig immer da. Die Blutgier war tief in seiner Spezies verankert, ihr gärender, zersetzender Einfluss auf das Vampirvolk allgegenwärtig spürbar.

„Es wird nie aufhören, nicht?“

„Was sagst du?“

Dass er laut gesprochen hatte, erkannte Tegan erst, als er Gideon einen Blick zuwarf, der ihn über den Rand seiner hellblau getönten Sonnenbrille hinweg betrachtete. Tegan schüttelte den Kopf. „Nichts.“

Er stapfte von den Computerterminals fort, seine Gedanken dunkel und aufgepeitscht. Gideon drehte sich wieder zu seinen Monitoren um und ließ die Finger klickend über eine Tastatur huschen. Wieder füllte eine Satellitenaufnahme den Bildschirm, sie zeigte eine alte Industrieparzelle unweit des Flussufers.

Tegan kannte den Ort. Mehr brauchte er nicht.

„Klar, Niko“, sagte Gideon eben in sein Mikrofon. „In Ordnung. Klingt gut. Wenn euch die Sache da drüben zu heiß wird, schrei nach Verstärkung. Dante und Chase sind weniger als eine Stunde von euch entfernt, und Tegan ist … hier …“

Aber Tegan war fort.

Er stapfte zielstrebig den Korridor vor dem Techniklabor hinauf, und Gideons Stimme verhallte hinter ihm, als sich die automatische Glastür des Labors mit einem Zischen schloss.

5

„Hier ist es. Fahr hinter dem Stoppschild links hoch“, sagte Nikolai vom Rücksitz eines schwarzen Geländewagens des Ordens aus. Er war damit beschäftigt, die Waffen nachzuladen, die er und die beiden neuen Rekruten des Ordens, die ihn heute Nacht begleiteten, im Osten der Stadt gewinnbringend eingesetzt hatten. Die Kugeln waren eine Spezialanfertigung und seine Lieblingsmunition gegen die Rogues - maximale Durchschlagkraft und gefüllt mit Titanpulver. Ein Kuss dieses Metalls bedeutete für die blutsüchtigen Stammesvampire den sicheren Tod. Niko knallte das Magazin in die frisierte Beretta 92FS, die er in eine Automatik umgebaut hatte, und schob sie in das Halfter unter seinem Mantel.