„Park hinter diesem Kleinlaster da“, wies er den Krieger an, der am Steuer saß. Dieser Teil von Revere war mit Wohnhäusern und heruntergekommenen Geschäften dicht bebaut. Hier in den Außenbezirken von Boston, wo der Chelsea River besonders ölig war, drängten sich viel zu viele Bewohner zusammen.
„Wir gehen den Rest des Weges zu Fuß. Lasst uns schön still und leise reingehen, damit wir uns dort gründlich umschauen können.“
„In Ordnung.“ Brock, ein junger schwarzer Hüne von einem Krieger, den sie in Detroit rekrutiert hatten und der am Steuer genauso geschickt war wie bei den Damen, fuhr den Wagen links an den verschneiten Bordstein und stellte den Motor ab.
Neben Brock auf dem Beifahrersitz drehte sich Nikos anderer Jungrekrut um und streckte die Hand nach der frisch geladenen Waffe aus. Kades wölfisch silberne Augen glänzten immer noch von der Aktion früher am Abend, sein schwarzes Haar war stachelig und nass vom geschmolzenen Schnee. „Denkst du, wir finden dort was?“
Niko grinste. „Das will ich verdammt noch mal hoffen.“ Er reichte den beiden Pistolen und frische Magazine, zog dann ein paar Schalldämpfer aus dem ledernen Beutel, der neben seinen Füßen auf dem Boden lag, und drückte sie den anderen mit einem klatschenden Geräusch in die Hände. Als Brock fragend eine dunkle Augenbraue hob, meinte Niko: „Ich bin ja schwer dafür, ein Rudel Rogues mit ein paar Runden aus meiner Neunmillimeter zu grillen, aber deshalb brauchen wir doch die Nachbarn nicht aufzuscheuchen.“
„Nö“, fügte Kade hinzu und ließ die Spitzen seiner perlweißen Fangzähne aufblitzen. „Soll ja keiner behaupten können, dass wir unhöfliche Gesellen sind.“
Nikolai nahm sich den Rest seiner Sachen und verschloss den Beutel. „Also los, Jungs. Lasst uns nach Crimson schnüffeln.“
Sie stiegen aus dem Geländewagen und gingen zu Fuß um das Wohngebiet herum. Alle drei hielten sich im Schatten, als sie sich an die Parzelle mit alten Lagerhäusern heranpirschten, zu der Nikos Vermutung sie geführt hatte.
Von außen wirkte das Gebäude extrem heruntergekommen - ein Schandfleck aus Beton, Holz und Glas, typische Industriearchitektur aus den Siebzigern. Stahlpfosten, die einst zu einem Maschendrahtzaun gehört haben mussten, ragten in diversen Winkeln aus dem Gelände hervor, kein einziger von ihnen war noch gerade. Nicht, dass es etwas ausgemacht hätte. Der Ort hatte eine Atmosphäre von Verfall an sich, die einem das sichere Gefühl vermittelte, sich besser fernzuhalten, selbst wenn der Schnee wie jetzt so harmlos und friedlich aus dem Nachthimmel fiel, als stünde man mitten in einer Schneekugel.
Niko und seine Jungs betraten die gekieste Einfahrt der Parzelle, ihre Schritte gedämpft vom frisch gefallenen Schnee. Als sie sich dem Gebäude näherten, entdeckte Niko auf dem Boden einen schwarzen Aschefleck. Die große, unregelmäßig geformte Fläche brodelte und zischte noch, die zarten weißen Schneeflocken, die darauf fielen, schmolzen sofort. Er machte eine Geste in Richtung der sterblichen Überreste, die sich da gerade zersetzten, als Brock und Kade näher kamen.
„Jemand hat hier einen Rogue eingeäschert“, sagte er zu ihnen, die Stimme ein leises Flüstern. „Ist noch frisch.“
Gideon hatte nicht erwähnt, dass er ihnen Verstärkung geschickt hatte, also waren sie besser vorsichtig. Wer weiß, was sie noch finden würden. Rogues waren wilde Bestien, und es war durchaus schon vorgekommen, dass sie einander wegen Revierstreitigkeiten oder kleinerer Meinungsverschiedenheiten umbrachten. Dem Orden war das ganz recht. Es sparte den Kriegern Zeit und Mühe, wenn die blutsüchtigen Bastarde den Kopf verloren und sich ausnahmsweise gegenseitig umlegten.
Beim Eingang des Gebäudes war einem weiteren Blutsauger eine tödliche Dosis Titan verpasst worden. Im gallertartigen Schleim der geschmolzenen Zellen lag ein riesiges Vorhängeschloss, und Brock deutete auf die verbeulte Stahltür. Sie stand leicht offen und gab einem dünnen Spalt Dunkelheit frei.
Kade warf Niko einen fragenden Blick zu und wartete auf das Signal, loszustürmen.
Nikolai schüttelte den Kopf, er war sich nicht sicher.
Etwas stimmte hier nicht.
Von irgendwo tief im Gebäude hörte er ein schwaches Dröhnen, das er sogar als leichtes Vibrieren in seinen Stiefelsohlen spüren konnte. In der kühlen Nachtluft fing er plötzlich den süßlichen Hauch eines widerlichen, chemischen Geruchs auf.
War das etwa … Kerosin?
Das Dröhnen wurde tiefer und verstärkte sich wie aufkommendes Donnergrollen.
„Was zum Teufel ist das?“, zischte Kade.
Niko roch den stechenden Geruch von heißem Metall.
„Oh, Scheiße.“ Er sah zu den beiden anderen Kriegern hinüber. „Los! Abhauen! Schnell! Los, los, los!“
Sie fielen alle in einen schnellen Sprint, flohen über das Grundstück, während das Dröhnen hinter ihnen zu einem gewaltigen Aufbrüllen anschwoll. Man hörte einen tiefen Schlag -scharf, gewalttätig -, als tief in den Eingeweiden des alten Gebäudes die Explosion ausbrach. Von der Druckwelle zerbarsten die Fensterscheiben der oberen Stockwerke, Stichflammen und dicker, schwarzer Rauch bahnten sich ihren Weg hinaus.
Während die drei Männer staunend zusahen, flog mit einem Knall die Haupteingangstür des Gebäudes aus den Angeln.
Nicht von der Explosion, sondern gelenkt vom Willen einer einzelnen Person.
Ein orangefarbener Feuerball umriss die schwarze Silhouette von hinten, erleuchtete die breiten Schultern und den lässigen, langbeinigen Gang eines Kriegers. Als er aus dem Inferno schlenderte, bauschten sich hinter ihm die Schöße seines offenen schwarzen Ledermantels wie ein Umhang, der selbst eines Prinzen der Dunkelheit würdig gewesen wäre.
„Da soll mich doch …“, murmelte Brock. „Tegan.“
Niko schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein angesichts der unverhohlenen Ehrfurcht in den Augen seiner beiden Neulinge. Nicht dass sie unverdient war. Tegan war so ziemlich der eindrucksvollste Krieger von allen und würde mit dieser Show in die Legenden eingehen, da war er sich sicher. Hinter Tegan stand das Lagerhaus nun in hellen Flammen, strahlte Hitze ab wie ein glühender Höllenschlund. Es war ein wirklich unglaublicher Anblick, von einer brüllenden, gewalttätigen Schönheit.
Aber wenn man sich Tegans ausdruckslose Miene ansah, wie er sich ihnen näherte, konnte man meinen, er wäre nur mal eben zum Pinkeln gegangen.
„Alles in Ordnung da drin, T?“, witzelte Niko. „Brauchst du Verstärkung oder so? Ein paar Würstchen vielleicht, damit du was zum Grillen hast über deinem Lagerfeuerchen?“
„Ich hab alles im Griff.“
„Das will ich meinen“, erwiderte Niko, der mit den beiden anderen Kriegern den Funkenflug aus dem brennenden Gebäude betrachtete. Die feurigen Schwaden stiegen hoch in den Nachthimmel hinauf.
Tegan ging mit seiner üblichen Coolness an ihnen vorbei, ohne ein Wort der Entschuldigung oder Erklärung. Aber so war es immer mit ihm. Er war der Geist, den man nie kommen sah, der Tod, der einem schon im Nacken saß, noch bevor man überhaupt registrierte, dass man sich im Fadenkreuz befand.
Im Kampf war er immer extrem gründlich, aber diese Vernichtungsaktion, die er dem Crimson-Labor hatte angedeihen lassen, übertraf alles, was Niko den Krieger je hatte tun sehen.
Nach den Informationen, die er über diesen Ort hatte, musste er etwa mit einem halben Dutzend Rogues bemannt gewesen sein - Tegan hatte sie alle erledigt, und von dem Gebäude würden in ein paar Stunden nur noch schwelende Trümmer übrig sein.
Wenn Niko es nicht besser wüsste, hätte er fast angenommen, dass es da um eine persönliche Abrechnung ging.
„Freut mich, dass wir dir helfen konnten“, rief er Tegan hinterher und stieß einen trockenen Fluch aus.
„Verdammt, ist der Typ kaltblütig“, bemerkte Brock, als Tegan in der Dunkelheit und den wirbelnden Schneeflocken verschwand.
„Er ist aus Eis.“ Niko war heilfroh, dass der Gen-Eins-Krieger auf ihrer Seite kämpfte. „Los, hauen wir ab, bevor es hier gleich vor Menschen wimmelt.“