Elise hatte die beeindruckenden Stammeszeichen auf seiner Haut einmal zuvor gesehen, damals, vor einigen Monaten, als sie im Hauptquartier des Ordens zum ersten Mal mit ihm geredet hatte. Sie hatte ihn nicht anstarren wollen, aber es war schwer, die wirbelnden Bögen und eleganten, verschlungenen geometrischen Muster nicht zu bestaunen, die Tegan als einen der Ältesten seines Stammes auswiesen. Er war ein Stammesvampir der ersten Generation; wenn seine außergewöhnlichen Kräfte ihn nicht als solchen erkennbar machten, taten das umso deutlicher die Ausdehnung und Komplexität seiner Glyphen.
Aber die Tatsache, dass er Gen-Eins war, machte ihn auch am empfindlichsten gegenüber Einflüssen wie Sonnenlicht, das um diese Tageszeit eine handfeste Bedrohung darstellte.
„Es ist schon nach neun“, sagte sie, für den Fall, dass es ihm entgangen war. „Du bist die ganze Nacht hiergeblieben.“
Als Antwort drehte sich Tegan nur um und schaufelte Rührei auf einen Teller. Er stellte die elektrische Herdplatte ab, ließ eine fertige Toastscheibe hochschnellen und legte sie dazu.
„Komm rüber und iss, solange es warm ist.“
Elise war nicht bewusst gewesen, wie ausgehungert sie war, bis sie an ihrem Küchenblock stand und den ersten Bissen zu sich nahm. Beim Kauen entfuhr ihr ein genüssliches kleines Stöhnen. „Oh, ist das lecker.“
„Weil du am Verhungern bist.“
Tegan ging zu dem kleinen Kühlschrank und kam mit einem Proteinshake in einer Plastikflasche zurück. Außer den Eiern, Joghurt und ein paar Äpfeln war nicht viel darin zu finden. Sie hatte sich nur sehr mangelhaft ernährt, nicht aus Kostengründen, sondern weil es schwerfiel, bei solch schlimmen Migräneanfällen ans Essen zu denken. Seit sie den Dunklen Hafen verlassen hatte, hatte sie die täglich - und jeden Tag, den sie hinaus unter Menschen auf Lakaienjagd ging, wurden sie schlimmer.
„Du hältst das nicht lange aus, weißt du. Nicht so.“ Tegan stellte den Shake vor ihr ab und ging wieder auf seinen Posten, ans andere Ende der Arbeitsfläche gelehnt. „Ich weiß, was es mit dir macht, hier unter den Menschen zu leben. Ich weiß, wie sehr deine übersinnliche Wahrnehmung dir zu schaffen macht, Elise.
Du hast keine Kontrolle darüber, und das ist gefährlich. Es kann dich zerstören. Ich konnte spüren, was es in dir anrichtet, als ich dich vor ein paar Stunden vom Boden aufgehoben habe.“
Sie rief sich ihre ersten Begegnungen mit Tegan ins Gedächtnis, seine Berührung, die ihr das Gefühl gegeben hatte, ihm gegenüber irgendwie entblößt zu sein. Das erste Mal hatte sie die Berührung des Kriegers gespürt, als er und Dante im Dunklen Hafen aufgetaucht waren, um ihren Schwager zu suchen. Die beiden Krieger hatten Sterling vor dem Haus aggressiv zur Rede gestellt, und als Elise hinausgerannt war, um zu sehen, was die Unruhe zu bedeuten hatte, war es Tegan gewesen, der sie gepackt hatte, um sie aus der Auseinandersetzung herauszuhalten.
Jetzt, nach den Vorkommnissen der letzten Nacht, verstand er die Schwäche, die sie ihr ganzes Leben lang in den Dunklen Häfen gefangen gehalten hatte. Sie fragte sich, ob der leidenschaftslose Blick, den er auf sie gerichtet hielt, wohl bedeutete, dass er vorhatte, sie in diesen Käfig zurückzubringen.
„Auf Dauer hält dein Körper den Belastungen nicht stand, denen du dich aussetzt, Elise. Du hast nicht die körperlichen Voraussetzungen, um zu tun, was du tust.“
Sie schüttelte die Plastikflasche, die er ihr gegeben hatte, und drehte mit einem Knacken den Verschluss ab. „Ich komme schon zurecht.“
„Klar, das sehe ich.“ Er warf einen vielsagenden Blick auf die Schalldämmung, die sie im Versuch, ihre Gabe abzublocken, an die Wand getackert hatte. „So, wie du gestern Nacht ausgesehen hast, kommst du wunderbar zurecht.“
„Du musstest mir nicht helfen.“
„Ich weiß“, sagte er. Sein Tonfall und sein Gesicht waren völlig ausdruckslos.
„Warum hast du es dann getan? Wieso bist du zurückgekommen?“
Er hob eine massige Schulter. „Ich dachte, du wüsstest vielleicht gern, dass der Orden das Crimson-Labor in die Luft gejagt hat. Das Labor, die Produktionsmaterialien, die Leute, die dort arbeiteten … alles eingeäschert.“
„Oh, Gott sei Dank.“
Eine Welle der Erleichterung überkam sie wie Balsam. Elise schloss die Augen und fühlte, wie sich heiße Tränen hinter ihren Lidern sammelten. Zumindest konnte die teuflische Droge, die ihr Camden genommen hatte, nun keiner anderen Mutter mehr den Sohn rauben. Sie brauchte einen Moment, bis sie so weit ihre Fassung zurückgewonnen hatte, um Tegan ansehen zu können, und als sie es schließlich tat, sah sie, dass seine smaragdgrünen Augen auf ihr ruhten.
Sie wischte die Tränen von den Wangen. Es war ihr peinlich, dass der Krieger ihr dabei zusah, wie sie zusammenbrach. „Tut mir leid. Ich wollte nicht so emotional sein. Ich habe nur dieses … Loch in meinem Herzen, seit Quentins Tod. Und als ich dann auch noch meinen Sohn verloren habe ...“ Sie schweifte in Gedanken ab, unfähig, zu beschreiben, wie leer sie sich fühlte.
„Ich ... es tut einfach so weh.“
„Es geht vorüber.“ Seine Stimme klang abgehackt und ausdruckslos, genauso gut hätte er ihr eine Ohrfeige versetzen können.
„Wie kannst du nur so etwas sagen?“
„Weil es wahr ist. Trauer ist ein unnützes Gefühl. Je schneller du das herausgefunden hast, desto besser wird es dir gehen.“
Jetzt starrte Elise ihn mit offenem Mund an, sie war entsetzt.
„Was ist mit der Liebe?“
„Was ist damit?“
„Hast du denn nie jemanden verloren, den du geliebt hast?
Wissen Männer wie ihr, die für Mord und Zerstörung leben, denn überhaupt, was Liebe bedeutet?“
Er nahm ihren wütenden Ausbruch, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, zur Kenntnis, sah sie einfach weiter mit einem unbewegten, unerschütterlichen Blick an, sodass sie ihn am liebsten über den Küchenblock hinweg angesprungen und geschlagen hätte.
„Iss dein Frühstück“, sagte er mit entnervender Höflichkeit.
„Du solltest dich ausruhen, solange du kannst. Sobald die Sonne untergeht, bin ich hier raus, und du bist wieder auf deine eigenen Schutzmechanismen angewiesen. So viel die wert sein mögen.“
Er ging zu dem langen, schwarzen Ledermantel hinüber, der ordentlich über dem Stepper hing, und zog mit unbewegter Miene sein Handy heraus. Als er eine Nummer wählte, verspürte Elise den absurden Drang, ihren Teller aufzuheben und ihm an den Kopf zu knallen, nur um dem steinernen Krieger eine wie auch immer geartete Reaktion zu entlocken.
Aber als sie ihm zuhörte, wie er die Zentrale des Ordens anrief, mit dieser tiefen Stimme, die so sachlich und unbewegt klang, erkannte Elise, dass sie ihn nicht so sehr unsympathisch fand, sondern vielmehr beneidete. Wie schaffte er es nur, immer so kalt und distanziert zu bleiben? Seine übersinnliche Gabe war ihrer eigenen gar nicht so unähnlich. Am gestrigen Abend hatte er ihre Qual unmittelbar erfahren, indem er sie berührte, aber im Gegensatz zu ihr hatte sie ihm nichts anhaben können. Wie schaffte er es nur, solche Schmerzen auszuhalten?
Vielleicht lag es daran, dass er Gen-Eins war. Vielleicht war es die spezielle Kraft der ersten Vampir-Generation, die ihn so undurchdringlich machte, ihn wirken ließ, als stünde er über den Dingen. Aber vielleicht war es auch Training. Wenn er es gelernt hatte, wenn das etwas war, was man lernen konnte, dann konnte es auch gelehrt werden.
„Zeig mir, wie du es machst“, sagte Elise, als er sein Gespräch beendet hatte und das Handy zuklappte.
„Wie ich was mache?“
„Du sagst, ich muss lernen, meine mentalen Kräfte zu kontrollieren, also zeig mir, wie ich das mache. Bring es mir bei. Ich will so sein wie du.“
„Nein, das willst du nicht.“
Sie ging um den Küchenblock herum zu ihm. „Tegan, zeig’s mir. Ich kann dir und dem Orden nützlich sein. Ich will helfen.