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Er kippte die Schachtel um, und der Inhalt glitt in seine Hand. Es war ein dünnes, altes, in Leder gebundenes Buch, in Luftpolsterfolie eingeschlagen. Er schälte die luftgefüllten Plastikkissen ab und runzelte perplex die Stirn. Es war einfach nur ein unscheinbares Buch, und dazu noch halb leer. Eine Art Tagebuch, ein paar Seiten bedeckt von handschriftlichen Passagen, hingekrakelt in einer Mischung von Latein und Deutsch, wie es aussah. Der Rest war leer, mit Ausnahme einiger ungelenker Symbole, die hie und da an die Seitenränder gekritzelt waren.

„Wie hast du es geschafft, da ranzukommen, Elise? Musstest du unterschreiben, einen Namen hinterlassen, irgendwas?“

„Nein. Der Angestellte wollte, dass ich mich ausweise, aber ich habe ja nichts. In den Dunklen Häfen braucht man so etwas nie.“

Tegan blätterte im Schnelldurchlauf durch die vergilbten Buchseiten und sah, dass mehrfach eine Familie namens Odolf erwähnt wurde. Der Name war ihm nicht geläufig, aber er war sich fast sicher, dass es sich um Angehörige des Stammes handeln musste. Die meisten der Eintragungen waren nur Wiederholungen einer Art Gedicht oder Reim. Was wollte Marek mit so einer obskuren, unverständlichen Chronik? Es musste einen Grund geben.

„Hast du FedEx irgendeine Information gegeben, die dich identifizieren könnte?“, fragte er Elise.

„Nein. Ich … ähm … ich hab es eingetauscht. Der Angestellte war bereit, mir das Päckchen für Camdens iPod zu geben.“

Tegan sah zu ihr auf, erkannte erst jetzt, dass sie den Heimweg ohne die Hilfe der Musik gemacht hatte, um ihre Gabe abzuschirmen. Kein Wunder, dass sie so erschöpft gewesen war, als sie nach Hause kam. Aber jetzt war sie das nicht mehr. Wenn sie sich unwohl fühlte, war ihr jedenfalls nichts anzumerken.

Elise lehnte sich vor, um das Buch zu inspizieren, auf die vorliegende Aufgabe konzentriert, mit dem gleichen Interesse wie er, ihr Verstand hellwach und völlig bei der Sache.

„Denkst du, das Buch könnte wichtig sein?“, fragte sie ihn, während ihre Augen über die Seite glitten, die aufgeschlagen vor ihr lag. „Was könnte es für die Rogues bedeuten?“

„Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir verdammt sicher, dass es dem Kerl etwas bedeutet, der sie anführt.“

„Du kennst ihn, nicht wahr?“

Tegan überlegte, ob er es abstreiten sollte, und schließlich nickte er vage. „Ja, ich kenne ihn. Sein Name ist Marek. Er ist Lucans älterer Bruder.“

„Ein Krieger?“

„Früher war er einer. Lucan und ich sind damals mit Marek an unsrer Seite in die Schlacht gezogen. Wir haben ihm unser Leben anvertraut und hätten unser Leben für ihn gegeben.“

„Und jetzt?“

„Jetzt hat sich Marek als Verräter und Mörder erwiesen. Er ist unser Feind - nicht nur der des Ordens, sondern des ganzen Vampirvolkes. Nur wissen es die anderen noch nicht. Mit etwas Glück werden wir ihn erwischen, bevor er die Gelegenheit findet, seinen Plan auszuführen - was auch immer das sein mag.“

„Und wenn der Orden versagt?“

Tegan drehte sich zu ihr um und starrte sie an. „Bete, dass es nicht so weit kommt.“

In der folgenden Stille blätterte er weiter in dem alten Tagebuch. Aus irgendeinem Grund wollte Marek dieses Buch haben, also musste doch irgendwo in dem verdammten Ding ein Hinweis versteckt sein.

„Warte mal. Zurück“, sagte Elise plötzlich. „Ist das eine Glyphe?“

Tegan hatte es zur gleichen Zeit bemerkt. Er wandte sich dem kleinen Symbol zu, das auf eine der Seiten kurz vor dem Ende des dünnen Bändchens gekritzelt war. Das Muster von verschlungenen geometrischen Bögen und Schnörkeln konnte dem ungeübten Auge als rein dekoratives Element erscheinen, aber Elise hatte recht. Es waren wirklich dermaglyphische Symbole.

„Scheiße“, murmelte Tegan und starrte das Zeichen an, das er als sehr altes Stammeszeichen erkannte. Es gehörte niemandem mit dem Namen Odolf, sondern einer anderen Familie, die vor langer Zeit gelebt hatte und vor langer Zeit ausgestorben war.

Welchen Grund konnte Marek haben, die fast vergessene Vergangenheit aufzuwühlen?

Schreie drangen in den Salon eines opulenten Landsitzes in den Berkshires, einer ländlichen, bewaldeten Gegend im Westen von Boston. Das gequälte Aufheulen kam von oben, aus einem Raum im Dachgeschoss des Anwesens im dritten Stock. Das Zimmer war rundum von einer Fensterwand umgeben, die ungehinderten Blick auf das waldige Tal unter dem Haus gewährte.

Die Landschaft im Licht der letzten Sonnenstrahlen des Tages war zweifellos atemberaubend schön.

So, wie er klang, war der Vampir, der dort oben von Lakaien bewacht wurde, entsprechend beeindruckt. Die letzten siebenundzwanzig Minuten lang hatte man ihm einen Platz in der allerersten Reihe gegeben, um dieses Spektakel von UV-Strahlen aus allernächster Nähe genießen zu können, und der Countdown tickte weiter. Weitere Schreie hallten durch das Treppenhaus, doch allmählich wich seine Agonie einem erschöpften Schluchzen.

Mit einem gelangweilten Seufzer erhob sich Marek von einem edlen Armstuhl aus der Zeit Ludwigs des Sechzehnten und durchquerte den Raum zu den Flügeltüren seiner dämmrig beleuchteten Privatgemächer. Außer dem Verhörraum im Dachgeschoss waren alle Fenster des Anwesens tagsüber mit elektronisch gesteuerten Sonnenblenden ausgestattet, die keinen Lichtstrahl durchließen.

Ungezwungen ging Marek in die Halle hinaus und rief einen seiner Lakaien herbei, die immer zu seiner Verfügung bereitstanden. Auf Mareks Nicken rannte der Mann die Treppe hinauf, um die anderen davon in Kenntnis zu setzen, dass der Meister auf dem Weg nach oben war. So konnten sie sicherstellen, dass die Fenster bei seiner Ankunft bedeckt waren.

Sofort hörte der Gefangene mit seinem jämmerlichen Geschrei auf. Marek stieg die breite Marmortreppe hinauf in den zweiten Stock und nahm dann die kleinere Treppe, die zum Dachgeschoss führte. Mit jedem Schritt wuchs seine Wut.

Dieses Verhör war eines von mehreren Verhören des Vampirs, der sich die letzten paar Wochen in seinem Gewahrsam befand und ihn mit seiner Verstocktheit extrem frustrierte und erschöpfte. Folter war zwar unterhaltsam, aber leider nur selten effektiv.

Die Entwicklungen des Tages unten in Boston hatten leider überhaupt nichts Amüsantes. Der Lakai, den er als Kurier entsandt hatte, um eine wichtige Luftfrachtsendung für ihn abzuholen, war stattdessen in einer städtischen Leichenhalle aufgetaucht - laut Mareks Kontaktmann bei der Gerichtsmedizin ein namenloses Opfer einer Messerstecherei. Da er am helllichten Tag erstochen worden war, konnte der Orden oder eine andere Intervention von Seiten des Stammes ausgeschlossen werden, aber Marek hatte diesbezüglich immer noch bestimmte Vermutungen.

Mit großem Interesse hatte er vernommen, dass das Päckchen, das er erwartete, noch am selben Tag aus der FedEx-Niederlassung verschwunden war. Das war ein empfindlicher Verlust für ihn, aber er beabsichtigte, sich das Material zurückzuholen. Und wenn er das tat, würde er den Dieb, der es an sich genommen hatte, mit größtem Vergnügen persönlich verhören.

Oben vor ihm, am oberen Ende der Dachbodentreppe, öffnete einer der Lakaien, die den Gefangenen bewachten, die Tür, und Marek betrat den nun abgedunkelten Raum. Der Gefangene war nackt und mit Ketten und Hand- und Fußeisen an einen Stuhl gefesselt. Von Kopf bis Fuß rauchte seine Haut von Brandwunden, und der widerlich süßliche Geruch von Schweiß und stark verbranntem Fleisch hing überall im Raum.

„Genießt du die Aussicht?“, fragte Marek, als er ins Zimmer schlenderte und den Mann voller Abscheu betrachtete. „Schade, dass jetzt schon Winter ist. Wie man mir sagt, müssen die Farben im Herbst hier oben einfach spektakulär sein.“

Der Kopf des Gefangenen war ihm tief auf die Brust gesunken, und als er zu sprechen versuchte, kam nur ein mühsames Krächzen aus der Kehle.

„Bist du bereit, mir zu sagen, was ich wissen muss?“

Den blasenübersäten, aufgeschwollenen Lippen des Mannes entwich ein jämmerliches Stöhnen.