Verdammte Hinterwäldler, die sich Touristen schimpfen, wieso gehen die nicht dahin zurück, wo sie hingehören -
Idiot! Geh mir bloß aus dem Weg, oder ich schlag dich unangespitzt in den Boden -
Sie ist die Schwester meiner Frau, na wenn schon? Sie ist doch die ganze Zeit schon hinter mir her -
Elises Atem ging mit jeder Sekunde schneller, in ihren Schläfen erwachten dröhnende Kopfschmerzen. Die Stimmen in ihrem Kopf vermischten sich zu einem unablässigen, fast ununterscheidbaren Geschwätz, aber sie hielt aus, wappnete sich erneut, als der Zug einfuhr und sich seine Türen öffneten, um eine Flut von Reisenden auf den Bahnsteig zu spülen. Die Menge strömte um Elise herum, neue Stimmen fielen in die Kakofonie ein, die ihr Innerstes zerfetzte.
Diese Loser, die hier rumsitzen und betteln, sollten mal genauso viel Energie darauf verwenden, sich einen verdammten Job zu suchen -
Ich schwöre, wenn dieser Bastard mich noch ein einziges Mal betatscht, bring ich ihn um -
Lauf nur, Herdenvieh, lauf zurück in den Stall! Mein Meister hat recht, ihr seid jämmerliche Kreaturen, die es verdient haben, versklavt zu werden -
Schlagartig öffnete Elise die Augen. Ihr Blut gefror zu Eis, als ihr Verstand diese Worte registrierte. Das war die Stimme, auf die sie gewartet hatte.
Die Beute, die sie jagen wollte.
Sie wusste nicht, wie der Mann hieß oder wie er aussah. Aber sie wusste, was er war: ein Lakai. Ein Wesen, das einmal ein Mensch gewesen war. Sein Menschsein war ihm von dem ausgesaugt worden, den er seinen Meister nannte, einem mächtigen Vampir, dem Anführer der Rogues. Und die Rogues und ihr unseliger Anführer, der das Vampirvolk gespalten und diesen Krieg angezettelt hatte, waren schuld daran, dass Elises einziger Sohn ums Leben gekommen war.
Nachdem sie vor fünf Jahren ihren Mann verloren hatte, war ihr nur noch Camden geblieben. Nur er hatte ihrem Leben noch Sinn und Bedeutung verliehen. Und dann verlor sie auch ihn, und ihr Leben bekam eine neue Bestimmung. Elise hatte einen unerschütterlichen Entschluss gefasst, und dieser war es, worauf sie sich jetzt stützte; der ihren Füßen befahl, Schritt für Schritt durch dieses dichte Gewühl zu tun, auf der Suche nach dem einen, der heute für Camdens Tod bezahlen würde.
Ihr schwirrte der Kopf vom unablässigen Ansturm schmerzhafter, hässlicher Gedanken, aber schließlich schaffte sie es, den Lakaien in der Menge auszumachen. Er stolzierte mehrere Meter vor ihr, eine schwarze Strickmütze auf dem Kopf, sein Körper in eine zerschlissene, ausgeblichene Tarnjacke gehüllt. Feindseligkeit strahlte von ihm ab wie Säure. Seine Verdorbenheit war so vollständig, dass Elise sie schmecken konnte wie die Magensäure, die ihr jetzt im Hals aufstieg. Sie hatte keine andere Wahl, als sich an seine Fersen zu heften und den richtigen Moment abzuwarten, um zum Angriff überzugehen.
Der Lakai verließ das Bahnhofsgebäude und ging in schnellem Schritttempo den Gehsteig entlang. Elise folgte ihm, die Finger fest um den Dolch in ihrer Tasche geschlossen. Draußen im Freien, wo weniger Leute unterwegs waren, hatte das ohrenbetäubende Geplärr ihrer übersinnlichen Wahrnehmung etwas abgenommen, aber die Reizüberflutung im Bahnhof hatte bei ihr Kopfschmerzen ausgelöst, und die waren immer noch da und bohrten sich wie ein stählerner Stachel immer tiefer in ihren Schädel. Elise hielt den Blick fest auf ihre Beute geheftet und wurde schneller, als er in ein Geschäft an der Straße schlüpfte.
Sie kam an der Glastür an und spähte an dem aufgemalten FedEx-Logo vorbei, um zu sehen, dass der Lakai dort in der Schalterschlange wartete.
„’tschuldigung“, sagte jemand hinter ihr und schreckte sie mit dem Klang einer realen Stimme statt des Summens gedachter Worte auf, das ihr immer noch den Kopf füllte. „Gehen Sie da jetzt rein oder nicht?“
Während er sprach, drückte der Mann hinter ihr gegen die Tür und hielt sie ihr erwartungsvoll auf. Sie hatte nicht vorgehabt, hineinzugehen, aber jetzt sah alle Welt sie an - auch der Lakai, und wenn sie sich weigerte, würde sie nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Also schlenderte Elise in die hell erleuchtete FedEx-Niederlassung und betrachtete mit demonstrativem Interesse die genormten Versandkisten, die im Schaufenster ausgestellt waren.
Von ihrem Standpunkt am Rand des Raumes sah sie zu, wie der Lakai abwartete, bis er an die Reihe kam. Er war nervös und hatte Gewalt im Sinn, in Gedanken beschimpfte er die Kunden vor ihm in der Schlange. Schließlich trat er an den Schalter und überhörte den Gruß des Angestellten.
„Ich will was abholen, ein Päckchen für Raines.“
Der Angestellte gab etwas in seinen Computer ein und zögerte. „Einen Moment, bitte.“ Er ging in einen Raum im hinteren Bereich der Filiale und kam schon wenig später kopfschüttelnd zurück. „Tut mir leid, ist noch nicht angekommen.“
Der Lakai strahlte eine Welle heißer Wut aus, die sich wie ein Schraubstock um Elises Schläfen presste. „Was soll das heißen, ist noch nicht angekommen?“
„Gestern Abend hat ein Schneesturm große Teile von New York lahmgelegt, deshalb haben sich viele der heutigen Sendungen verspätet …“
„Dieser Scheißladen gibt einem doch eine Garantie“, knurrte der Lakai.
„Tut er auch. Wir können Ihnen Ihr Geld zurückerstatten, aber dazu müssen Sie ein Antragsformular ausfüllen …“
„Dein Formular kannste dir sonst wo reinstecken, Idiot! Ich brauch dieses Päckchen, und zwar dalli!“
Mein Herr wird mir den Arsch aufreißen, wenn ich nicht mit dieser Lieferung zurückkomme, und wenn ich wegen dir Ärger kriege, Bürschchen, dann komm ich wieder und reiß dir deine gottverdammte Lunge raus!
Von der Bösartigkeit dieser unausgesprochenen Drohung stockte Elise der Atem. Sie wusste, dass die Lakaien nur dafür lebten, denen zu dienen, die sie erschaffen hatten, aber es war immer ein entsetzlicher Schock für sie, zu hören, wie tief ihre Loyalität ging. Ihrer Spezies war nichts heilig. Leben, ob es sich dabei um Menschen handelte oder um Angehörige des Stammes, bedeuteten ihnen nichts. Lakaien waren fast so schlimm wie Rogues, die blutdürstige, kriminelle Splittergruppe des Vampirvolkes.
Der Lakai lehnte sich über den Schalter, die Fäuste neben sich auf den Schaltertresen gestemmt. „Ich brauch dieses Päckchen, Arschloch. Vorher geh ich hier nicht weg.“
Der Angestellte wich zurück, seine Miene war ängstlich geworden. Hektisch griff er nach dem Telefon. „Hören Sie mal, wie ich Ihnen schon erklärt habe, kann ich Ihnen da nicht weiterhelfen. Sie werden einfach morgen wiederkommen müssen.
Und jetzt sollten Sie besser gehen, bevor ich die Polizei rufe.“
Du unnützes Stück Scheiße, knurrte der Lakai innerlich. Ich komm morgen wieder, oh ja, das werd ich. Warte nur, bis ich wiederkomme!
„Gibt es ein Problem, Joey?“ Mit geschäftsmäßiger Miene kam ein älterer Mann aus einem der hinteren Räume.
„Ich habe versucht, dem Herrn zu erklären, dass seine Lieferung wegen des Sturms verspätet ist, aber er hört einfach nicht auf. Wo soll ich’s denn herzaubern, soll ich’s mir vielleicht aus dem A-“
„Mein Herr?“ Der Filialleiter fiel seinem Angestellten ins Wort und fixierte den Lakaien mit einem ernsten Blick. „Ich möchte Sie nun höflichst bitten, zu gehen, oder ich werde die Polizei rufen, um Sie hinauszubegleiten.“
Was der Lakai knurrte, war unverständlich, aber bösartig. Er knallte die Faust auf den Schalter, fuhr auf dem Absatz herum und stapfte davon. Als er sich der Tür näherte, an der Elise stand, stieß er an einen Warenständer. Klebebandrollen und luftgepolsterte Versandtaschen ergossen sich auf den Boden. Obwohl Elise einen Schritt zurücktrat, kam der Lakai mit zu viel Schwung auf sie zu.