Und dann war da die hübsche, ruhige Tess, die sich so mitfühlend um Elise gekümmert hatte, als sei sie ein Mitglied ihrer eigenen Familie.
Elise fühlte sich ihnen allen gegenüber beschämt. Sie war in den Dunklen Häfen aufgewachsen, wo die Ordenskrieger im besten Fall als anachronistische, gefährliche Splittergruppe des Vampirvolkes galten, die ihren Zweck längst überlebt hatten, und im schlimmsten Fall als eine tödliche Killergang, die willkürlich Lynchjustiz betrieb. Somit war es überraschend für sie, diese intelligenten, freundlichen Frauen kennenzulernen, die sich allesamt einen Krieger zum Gefährten erwählt hatten. Jede einzelne dieser Frauen würde sich nur mit einem Mann von Ehre und Integrität einlassen. Sie waren zu klug und zu selbstsicher, um sich mit weniger zufriedenzugeben.
So überraschend es für Elise auch war, aber diese Frauen, so liebenswürdig und warmherzig, wie sie waren, ähnelten durchaus den Frauen aus den Dunklen Häfen, die Elise als ihre Freundinnen betrachtete.
„Jetzt, wo ihr fertig seid, kommt doch mit mir“, sagte Savannah und unterbrach damit Elises Gedankengang. „Gabrielle und ich haben gerade ein paar Sandwiches und einen Obstsalat gemacht. Du musst hungrig sein, Elise.“
„Das bin ich … oder sollte es zumindest sein“, gab sie mit ruhiger Stimme zu. Es war schon Stunden her, dass sie etwas zu sich genommen hatte, und die Energiereserven ihres Körpers waren erschöpft. Sie brauchte Nahrung, aber der Gedanke an Essen hatte nichts Verlockendes mehr für sie. Alles schmeckte schal, selbst ihre Lieblingsgerichte von früher, als Quentin noch am Leben war.
„Wie lange ist es her, Elise?“ Savannahs Tonfall war vorsichtig, besorgt. „Ich habe gehört, dass du deinen Gefährten vor fünf Jahren verloren hast …“
Natürlich wusste sie, wonach die andere Frau sie da fragte.
War sie so lange schon ohne Blut ausgekommen? In den Dunklen Häfen galt es als unschicklich, über die Blutsverbindung einer Frau mit ihrem Gefährten Fragen zu stellen - und noch unverzeihlicher war es, eine Witwe zu fragen, ob sie nach dem Ableben ihres Mannes Nahrung von einem anderen bezog. Aber hier, unter diesen Frauen, schien es keinen Grund zu geben, nicht die Wahrheit zu sagen.
„Quentin wurde bei der Ausübung seiner beruflichen Pflichten von einem Rogue getötet, das ist jetzt fünf Jahre und zwei Monate her. Ich habe mich an keinen anderen gewandt, um meine Bedürfnisse zu stillen - an keinen von ihnen. Und das werde ich auch nicht.“
„Fünf Jahre ohne das Blut des Stammes in dir, das ist eine lange Zeit“, gab Savannah zu. Zum Glück sah sie davon ab, die andere Implikation anzusprechen, die Elises Geständnis hatte: dass sie sich in all dieser Zeit auch keinen Liebhaber genommen hatte.
„Dein Körper altert“, sagte Tess mit einem Blick, in dem Neugier und auch eine Spur Traurigkeit lag. „Wenn du dir nicht bald wieder einen Gefährten suchst …“
„Dann werde ich irgendwann sterben“, antwortete Elise. „Ja, ich weiß. Ohne das Blut des Stammes, das mich immer bei voller Gesundheit erhält, muss ich meine Muskeln trainieren und mich fit halten wie jeder andere Mensch. Mein Körper wird sich mit den Jahren verändern - das hat er jetzt schon getan. Mit der Zeit werde ich alt werden, wie jeder andere Mensch.“
Savannah sah sie mit ihren dunklen Augen mitfühlend an.
„Stört dich das nicht? Der Gedanke, zu sterben?“
„Nur, wenn ich daran denke, dass man mich eines Tages zu Grabe trägt, ohne dass ich etwas ausrichten konnte in der Welt.
Das ist der Grand, warum ich …“ Sie sah zu Boden. Immer noch fiel es ihr schwer, darüber zu sprechen, was sie dazu gebracht hatte, aus ihrem Dunklen Hafen auszuziehen und ein neues Leben anzufangen. „Ich habe vor vier Monaten meinen Sohn verloren. Er hat Crimson genommen, und die Droge hat ihn zum Rogue gemacht.“
„Ja“, sagte Savannah und streckte die Hand aus, um sie sachte an der Schulter zu berühren. „Wir haben gehört, was passiert ist. Und wie er gestorben ist. Es tut mir so leid.“
„Mir auch“, fügte Tess hinzu. „Zumindest wurde jetzt dieses Crimson-Labor zerstört. Tegan hat sich persönlich darum gekümmert.“
Elises Kopf fuhr überrascht auf. „Wie meinst du das, persönlich?“
„Er hat es in die Luft gejagt“, sagte Tess. „Nikolai, Kade und Brock reden von nichts anderem mehr, seit sie zurück sind.
Offenbar ging Tegan ganz alleine hinein und hat die Anlage zerstört, noch bevor die anderen überhaupt dort angekommen waren. Und dann hat er das Gebäude in die Luft gejagt.“
„Das war Tegan?“ Elise war verblüfft. Und sich recht sicher, dass er angedeutet hatte, der Orden sei für die Zerstörung des Labors verantwortlich gewesen. Warum wollte er sie das glauben machen, wenn er es persönlich getan hatte?
„Niko sagte, Tegan kam aus dieser brennenden Lagerhalle wie eine Gestalt aus einem Albtraum“, fuhr Tess fort. „Und dann ging er ohne weitere Erklärung in die Nacht hinaus.“
Und von dort direkt zu ihrer Wohnung, um nach ihr zu sehen, wie Elise jetzt erkannte.
„Komm, lass uns weiterreden, während du etwas isst. Gabrielle wartet oben im Esszimmer auf uns.“
Die drei Frauen verließen die Krankenstation, Tess’ kleinen Kläffer im Schlepptau, und gingen durch ein verwirrendes Labyrinth von Gängen und Korridoren in das Herz des unterirdischen Hauptquartiers des Ordens. Eben waren sie vor einem Fahrstuhl angelangt, als irgendwo in der Nähe eine automatische Glastür aufglitt und tiefe Männerstimmen den Gang erfüllten.
Elise konnte Sterlings Stimme heraushören, aber er klang rauer als sonst, redete von nächtlichen Patrouillen und seiner Abschussquote von Rogues, an der er noch arbeiten wollte, gerade so, als wäre das Morden ein Sport für ihn.
Die andere Männerstimme hatte einen exotischen, rollenden Akzent, der Elise an türkisfarbene Ozeanwellen und goldene Sonnenuntergänge denken ließ. Das war Dante, erkannte sie, als die beiden bewaffneten Krieger um die Ecke bogen, und der, der neben Sterling ging, auf sie zugeeilt kam und Tess in einer festen Umarmung fast vom Boden hob.
„Hallo, mein Engel“, schnurrte er und fuhr mit dem Mund an ihren Hals, während sie über diesen plötzlichen verliebten Ansturm auflachte. In seinen Augen blitzte bernsteinfarben das Begehren nach seiner Geliebten auf, und er gab sich keine Mühe, dieses Gefühl zu verbergen.
„Du hast mir gefehlt“, flüsterte sie und streichelte sein dunkles Haar. „Du fehlst mir immer.“
„Nun, jetzt bin ich daheim.“ Seine Worte klangen tief und heiser, als er sich zu ihr herunterbeugte und ihre Hand umfasste.
Elise konnte die Spitzen seiner Fangzähne sehen, als er seiner Stammesgefährtin ein langsames, schiefes Lächeln zuwarf. „Und ich habe großen Durst nach dir, Tess.“
Ihr Lächeln war voller Sehnsucht. „Ich wollte gerade los, mit meinen Freundinnen einen Bissen essen.“
Savannah lachte. „Ich glaube, da hast du gerade etwas Besseres gefunden. Wir heben dir ein Sandwich auf. Weiß Gott, das wirst du wahrscheinlich brauchen.“
Tess strahlte die anderen über die Schulter hinweg an, als Dante sie davonführte. Das Paar entfernte sich, ohne einen Zweifel daran zu lassen, was sie gleich in trauter Zweisamkeit miteinander tun würden.
Tess’ kleiner Terrier fing zu bellen an, als Dante ihm sein Frauchen entführte, und Savannah bückte sich und nahm ihn hoch. „Komm mit, mein Kleiner. Für dich finden wir auch noch was Feines.“ Sie sah zu Elise hinüber. „Ich schau nur schnell mal nach, was Gideon in seinem Labor treibt. Bin gleich wieder da, ja?“
Elise nickte. Und als sie den Kopf von Dante und Tess abwandte, die zusammen davongingen, erblickte sie Sterling, der sie vom anderen Ende des Ganges her anstarrte. Sein Blick war schneidend, als er ihre Erscheinung in sich aufnahm - ihren kurz geschorenen Schopf, das blutbesudelte Sweatshirt, die Hosen und feuchten Winterstiefel. Die Missbilligung, die in seinen Augen stand, war sogar noch deutlicher als Dantes erste Reaktion auf sie. Elise sah, dass Sterlings Blick auf ihre Hände fiel, zu ihren Fingern, die nervös mit dem Saum ihres Sweatshirts spielten. Er starrte ihren Ehering an. In seiner stoppeligen Wange zuckte ein Muskel.