„Ich schaff das schon.“
Er lachte verächtlich auf. „Und wie?“
Sie runzelte die Stirn und senkte den Blick, als Tegans Stimme durch das Labor dröhnte.
„Was wirst du denn bis dahin machen - dir die Vene eines Vampirs erbetteln, um dir etwas Kraft zu geben? Denn ohne die geht es nicht.“
Plötzlich waren ihre Wangen puterrot.
„Vielleicht gibt es hier ja einen, der dir zu Diensten ist“, sagte Tegan unbarmherzig und zeigte auf die übrigen Krieger, die ihre Auseinandersetzung in angespanntem Schweigen verfolgten.
„Scheiße, Tegan“, warnte Gideon neben ihn. „Jetzt komm mal wieder runter, um Himmels willen.“
Tegan blendete alles außer dem schockierten Gesichtsausdruck der Frau aus dem Dunklen Hafen aus. „Ohne das geht’s nicht, Elise - ohne dass dir frisches Stammesblut durch die Adern rollt. Solange du das nicht bekommst, wird deine Gabe dich weiterhin beherrschen, so wie jetzt. Und so bist du nur eine Belastung für mich.“
Er sah, wie Entrüstung in ihren Augen aufblitzte, aber ihre Demütigung war es, die ihn wie ein Schlag in die Magengrube traf. Es galt als extrem vulgär, öffentlich von der Blutsverbindung zwischen einer Frau und ihrem Gefährten zu reden - und als noch schlimmer, das in gemischter Gesellschaft zu tun.
Der Vorschlag, dass sich eine ledige Stammesgefährtin einen Mann nahm, nur um sich zu nähren, war ausgesprochen obszön.
„Ich bin Witwe“, sagte sie ruhig. „Ich trauere …“
„Seit fünf Jahren“, erinnerte sie Tegan, seine eigene Stimme klang selbst ihm zu gepresst in den Ohren. „Wo bist du in noch mal fünf Jahren? Oder zehn? Du bist dabei, dich selbst zum Tode zu verurteilen, und das weißt du. Bitte nicht mich um Hilfe, wenn du deinen Selbstmord jetzt noch künstlich beschleunigen willst.“
Stumm sah sie zu ihm auf. In ihrem zierlichen Hals arbeitete es, als sie etwas unterdrückte, was vermutlich ein Schluchzen geworden wäre. Oder ein Fluch, der ihn direkt in die Hölle wünschte. Auf dem besten Weg dorthin war er vermutlich schon vor dieser hässlichen Szene gewesen.
„Du hast recht, Tegan“, flüsterte sie, ohne eine Spur von Schwäche oder auch nur des leisesten Zitterns in der Stimme.
„Du hast recht … und eins muss ich dir lassen, deinen Standpunkt hast du mehr als deutlich gemacht.“
Mit gereckten Schultern drehte sie sich auf dem Absatz herum und ging ruhig aus dem Labor, der Inbegriff stoischer Würde. Tegan kam sich wie ein Idiot vor, als er ihr in angespanntem Schweigen nachsah. Sobald sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, stieß er einen scharfen Fluch aus.
„Was zum Teufel gibt’s da zu glotzen?“, bellte er Chase an, der von seinem Tisch aufgestanden war. Der ehemalige Agent der Dunklen Häfen hatte den Griff der Handfeuerwaffe in seinem Brusthalfter gepackt. So, wie er aussah, stand er kurz davor, einen Mord zu begehen.
„Verfickt und zugenäht“, knurrte Tegan. „Ich bin raus hier.“
Dass Chase ihm auf dem Fuß folgte, überraschte keinen sonderlich. Als die beiden Männer auf den Korridor hinausgegangen waren, verpasste er Tegan einen harten Stoß gegen die Schulter.
„Du Drecksack. Diese Art Behandlung hat sie nicht verdient - und am allerwenigsten von so einem wie dir.“
Nein, das hatte sie wirklich nicht. Aber es war notwendig gewesen. Keine Macht der Welt konnte ihn dazu zwingen, noch einmal auf engem Raum mit Elise zusammen zu sein, geschweige denn, sie auf dieser Reise nach Berlin zu seiner Komplizin zu machen. Er hatte etwas tun müssen, um sie abzuwimmeln, und zwar ein für alle Mal. Wenn er sich wieder einmal als Arschloch erwiesen hatte, indem er es in aller Öffentlichkeit tat, war ihm das auch egal. Er hatte nur bestärkt, was alle Welt sowieso schon von ihm dachte.
Tegan sah Chases wutentbrannten Blick und brachte ein kaltes Lächeln zustande. „Liegt dir die Frau so sehr am Herzen, Harvard? Warum gehst du sie nicht trösten, ich sehe doch, dass es dir schon aus allen Knopflöchern rauskommt. Tu uns allen einen Gefallen und halte sie mir verdammt noch mal vom Hals.“
Chase brachte sein Gesicht näher, in seinen blauen Augen blitzte rohe Wut.
„Du bist ein Stück Scheiße, weißt du das?“
„So?“, meinte Tegan achselzuckend. „Immerhin kandidiere ich nicht für die Wahlen zum Witwentröster des Jahres.“
„Du arroganter Dreck …“
Tegan unterbrach eine weitere Salve von Beschimpfungen, indem er den Mund öffnete und zwischen seinen Fangzähnen hindurch zischte, die sich gerade ausfuhren. Fast hoffte er schon, der wütende Vampir würde ihn in einen Kampf verwickeln. Ein Teil von ihm wollte Chases Qual und Wut spüren, und so aufgekratzt, wie er gerade war, würde er sich keine Gelegenheit entgehen lassen, sich die Knöchel in einem kleinen Zweikampf aufzuschlagen.
Aber Dante ging dazwischen. Er kam aus dem Labor und packte Chase am Arm, gerade noch rechtzeitig, um den Krieger aus Tegans Reichweite zu ziehen. „Scheiße, Harvard. Lass dich nicht umbringen, gerade jetzt, wo ich dich fast fertig ausgebildet habe. Wäre doch schade drum, was?“
Nach ein paar Sekunden in Dantes Griff kühlte Chase langsam ab, aber seine Augen brannten immer noch auf Tegan, selbst dann noch, als Dante ihn den Korridor hinaufzog. Im Labor hatte Gideon sich wieder seiner Tastatur zugewandt.
Auch Nikolai, Brock und Kade nahmen ihre Besprechung wieder auf. Alle taten so, als hätte sich Tegan nicht eben vor einer wehrlosen Frau aufgeführt wie ein herzloses Stück Scheiße.
Tegan stieß einen leisen Fluch aus. Er musste hier raus, und so, wie die Dinge liefen, konnte der Flieger nach Berlin am nächsten Abend gar nicht früh genug abheben.
Es gab einen Ort, an den er gehen konnte - wo er immer hinging, wenn sich die Scheiße mal wieder über ihm auftürmte.
Manchmal verschwand er dort nächtelang; keiner seiner Ordensbrüder war jemals dort gewesen. Es war seine eigene, private Hölle, ein gottverlassener, leerer Ort, gefüllt mit Tod. Und so, wie er sich gerade fühlte, kam dieser Ort ihm vor wie ein verdammtes Ferienparadies.
Elise stand mitten in einem großen, praktisch leeren Zimmer im Hauptquartier des Ordens und fühlte sich, als hätte ein Schlag ihr alle Luft aus den Lungen gepresst. Immer noch zitterte sie von ihrer Auseinandersetzung mit Tegan, aber ob aus Demütigung oder Wut konnte sie nicht sagen. Für das, was er ihr vor seinen versammelten Brüdern angetan hatte, konnte es keine Entschuldigung geben. Es zeugte von einer unglaublichen inneren Kälte. Er musste doch wissen, dass das, was er ihr vorgeschlagen hatte, blasphemisch, obszön und beleidigend war - nicht nur ihr gegenüber, sondern auch den anderen Kriegern gegenüber, die mit im Zimmer waren und alles mit angehört hatten. Von den Frauen, die mit dem Stamm lebten, würden sich nur solche auf eine Blutsverbindung ohne eine tiefe gegenseitige Liebe und ein ernstes Treuegelübde einlassen, die so tief gesunken waren, dass sie keinen Funken Anstand und Moral mehr besaßen.
Die Blutsverbindung war dem Stamm heilig, das heilige Mysterium der Verbindung zwischen einer Stammesgefährtin und dem Mann, den sie sich zum Gefährten erwählt hatte. Der Austausch von Blut war die höchste Form der Nähe, und oft mit dem Liebesakt verbunden. Eine solche Verbindung ging niemand leichtfertig ein. Das Blut eines Vampirs als reines Lebenselexir zu benutzen, um die eigene Lebensdauer und Kräfte aufzufrischen, war ein Ding der Unmöglichkeit, so etwas machte man nicht. Zumindest nicht in den Kreisen, in denen Elise aufgewachsen war.
Aber sie konnte nicht bestreiten, dass Tegans Beobachtungen der Wahrheit entsprachen.
Was er gesagt hatte, war roh und grausam gewesen … aber leider traf es auch zu. Sie hatte sich dafür entschieden, alt zu werden, was als verwitwete Stammesgefährtin ihr gutes Recht war. Aber sie wollte auch eine aktive Rolle im Kampf gegen die Rogues einnehmen, und es war töricht, zu glauben, dass sie das in dieser Verfassung weiterhin tun konnte.