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„Was hat er mit dir gemacht?“

„Nichts“, sagte sie, überflutet von einem Gefühl der Demütigung, für das Tegan nichts konnte.

„Du hast von ihm getrunken.“

Es war eine Anklage, die Elise nicht abstreiten konnte. „Es ist nichts. Mach dir wegen mir keine Sorgen …“

„Hat er dich so gedemütigt, bis du dachtest, dass du das tun musst? Hat er dich dazu … verführt, von ihm zu trinken?“ Sterling zischte einen Fluch, vor Wut fuhren seine Fangzähne aus.

„Ich bring ihn um, verdammt noch mal. Wenn er dich dazu gezwungen hat, dann schwöre ich, dieser Hundesohn wird dafür bezahlen!“

„Tegan hat mich zu überhaupt nichts gezwungen. Ich bin zu ihm gegangen. Es war meine Entscheidung. Ich habe ihn darum gebeten, ihn benutzen zu dürfen. Es ging allein von mir aus, Sterling, nicht von ihm.“

„Du bist zu ihm gegangen?“ Er sah sie an, als hätte sie ihn geschlagen. „Du hast freiwillig von ihm getrunken? Himmel, Elise … warum?“

„Weil ich Camden ein Versprechen gegeben habe. Ich habe ihm versprochen, dass ich tun würde, was ich kann, um dafür zu sorgen, dass keine anderen Jungen mehr von den Rogues verletzt werden, oder von denen, die ihnen dienen. Ich habe ein Gelübde abgelegt, aber ich kann es nicht erfüllen, wenn mein Körper geschwächt ist. Tegan hatte recht. Ich brauchte Stammesblut, und er hat es mir gegeben.“

Sterling fuhr sich mit der Hand durchs Haar, dann über sein Gesicht. Als er die Hand ausstreckte, um sie an den Schultern zu packen, waren seine Augen wild vor Schmerz, und der Griff seiner Finger war grob.

„Du hättest dich nicht mit einem Fremden einlassen sollen, Elise. Verdammt, zu mir hättest du kommen sollen!“

Sie schreckte angesichts der plötzlichen schneidenden Härte seiner Stimme und der Wildheit, die sein gut aussehendes Gesicht verzerrte, zusammen. Als sie versuchte, sich seinem starken Griff zu entziehen, hielt er sie nur umso fester.

„Ich hätte mich um dich gekümmert. Ich hätte dich gut behandelt. Weißt du das denn nicht?“

„Sterling, bitte lass mich los. Du tust mir weh.“

„Ich würde tun, was die Lady sagt, Harvard.“

Der kühle Befehl kam aus nur wenigen Metern Entfernung aus dem Korridor. Tegan stand dort, in einem grafitgrauen Pullover und schwarzen Hosen, die Arme über der Brust verschränkt und eine massige Schulter an die weiße Marmorwand gelehnt.

Alles an seiner Haltung ließ verlauten, dass ihn der kleine Konflikt zwischen Elise und dem Bruder ihres toten Gefährten völlig kalt ließ, aber Tegans Augen sagten etwas anderes. Sein Blick war fest auf Sterling gerichtet. Es war ein äußerst drohender Blick.

Elise hob die Hände, um Sterlings schraubstockartigen Griff abzuschütteln. „Sterling, ich bitte dich …“

Erschrocken sah er sie an und ließ sie sofort los. „Es tut mir leid. Jetzt bin ich derjenige, der sich im Ton vergriffen hat. Es wird nicht wieder vorkommen, das schwöre ich dir.“

„Das will ich verdammt noch mal hoffen“, sagte Tegan, sein Ton seltsam beschützend, obwohl er sich von seiner Position auf der anderen Seite des Korridors keinen Zentimeter wegbewegt hatte. Als Sterling sich zurückzog, sichtlich betroffen von der für ihn so uncharakteristischen Vorstellung, die er da eben gegeben hatte, sah Tegan schließlich zu Elise hinüber. „Der Flieger ist startklar. Kommst du mit oder nicht?“

Elise schluckte und nickte schließlich etwas zittrig.

„Ich komme.“

Befangen schlüpfte sie an Sterling vorbei. Sie konnte seinen Blick auf sich spüren, als sie auf den Korridor hinaustrat. Die Last des düsteren Blickes, mit dem ihr Schwager sie verfolgte, blieb bei ihr, als sie neben Tegan in Gleichschritt verfiel und mit ihm den Korridor hinunterging.

Lange nachdem Elise und Tegan aus seinem Blickfeld verschwunden waren, stand Chase immer noch da. Er konnte nicht so tun, als überraschte es ihn, dass Elise ihn zurückgewiesen hatte. Diesen Schmerz hatte er schon seit Langem auf sich zukommen sehen, und er wusste, dass er sich nur selbst dafür verantwortlich machen konnte.

Sie hatte nie ihm gehört, so sehr er sich auch gewünscht hatte, dass die Dinge zwischen ihnen anders liegen würden. Sie hatte seinem Bruder gehört. In ihrem Herzen tat sie das vermutlich immer noch, auch wenn sie inzwischen ihre weiße Witwenkleidung gegen normale Straßenbekleidung eingetauscht hatte.

Und nun gehörte ein Teil von ihr unwiderruflich Tegan.

Das war die Erkenntnis, die ihn am meisten verletzte. Tegan, dem tödlichsten Mitglied des Ordens, dem Kältesten von allen.

Demjenigen, der am wenigsten Respekt vor dem Leben hatte - seinem eigenen wie auch dem aller anderen.

Trotzdem hatte sich Elise in ihrer Not ausgerechnet an ihn gewandt.

Hatte Tegan sie bei dem Akt genommen? Chase weigerte sich, diesen Gedanken auch nur in Betracht zu ziehen. Obwohl es praktisch ausgeschlossen war, dass ein Stammesvampir einer Frau seine Vene gab und nicht von dem sexuellen Impuls überkommen wurde, sich im Gegenzug ihres Körpers zu bedienen.

Tegan war niemand, der mit seinen Eroberungen prahlte - in all den Monaten, seit Chase beim Orden lebte, hatte der Krieger kein einziges Mal irgendwelche Frauengeschichten erwähnt.

Aber die zahllosen Nächte, die er außerhalb des Hauptquartiers verbrachte, ohne dass jemand wusste, wo er sich aufhielt, ließen wenig Zweifel daran zu, dass der Krieger in dieser Hinsicht auf seine Kosten kam. Eine so behütet aufgewachsene Frau wie Elise konnte für einen Eisklotz wie Tegan doch nicht mehr bedeuten als eine flüchtige Affäre.

„Verdammt noch mal“, murmelte Chase und knallte die Faust gegen die Wand. Es war eine sinnlose Tat, die ihm nur noch mehr Schmerz einbrachte. Aber der war ihm jetzt willkommen. Er wollte bluten. Wenn er dabei ein paar Rogues abknallen konnte, umso besser.

Er stapfte den Gang hinauf und traf auf Dante, der mit Niko, Brock und Kade vor dem Techniklabor herumhing, allesamt bis an die Zähne bewaffnet wie er selbst, bereit für ihren nächtlichen Einsatz an der Oberfläche.

Als er sich näherte, nickte ihm Dante grüßend zu, seine whiskyfarbenen Augen verengten sich nachdenklich. „Sie sind weg“, sagte er, als sollte Chase erleichtert sein, das zu hören.

„Bist du okay, Harvard?“

„Sehe ich aus, als bräuchte ich Streicheleinheiten, verdammt noch mal?“, blaffte er. „Mir wird’s jedenfalls noch viel besser gehen, wenn meine Füße endlich wieder auf der Straße sind und mir Rogueblut von den Händen tropft. Hat hier einer Lust, heute Nacht ein paar Blutsauger einzuäschern, oder wollt ihr lieber weiter hier unten rumstehen?“

Er wartete keine Antwort ab und ging mit dunkler, tödlicher Zielstrebigkeit auf den Fahrstuhl des Hauptquartiers zu, nach und nach gefolgt von den anderen Kriegern.

15

Elise döste den Großteil der neun Stunden, die der Flug nach Berlin dauerte. Tegan blieb jedoch wach. Den modernen Transportmitteln hatte er noch nie viel abgewinnen können, und während er die Vorteile des Düsenzeitalters durchaus anerkannte, stand diese Art der Fortbewegung - eingesperrt in mehreren Tonnen Stahl mit über siebenhundert Stundenkilometern in einer Höhe von ungefähr zehntausend Metern durch die Luft zu rasen - eindeutig an letzter Stelle seiner Lieblingsbeschäftigungen.

Mit Erleichterung stellte er fest, dass der Privatjet über dem Flughafen Berlin Tegel zum Landeanflug ansetzte. Wenige Minuten später setzte das Fahrwerk des schlanken Flugzeuges auf der Landebahn auf.

„Wir sind da“, sagte er zu Elise, als der weiche Ruck der Landung sie weckte.

Sie streckte sich sittsam und gähnte hinter vorgehaltener Hand. „Hab ich die ganze Zeit geschlafen?“

Tegan zuckte die Achseln. „Du hattest die Ruhe nötig. Dein Organismus stellt sich immer noch auf das Blut ein, das du zu dir genommen hast.“

Sie errötete, ein paar Schattierungen dunkler als das Rosa, das ihr seit ihrem Blutmahl der letzten Nacht in die Wangen gestiegen war. Sie wandte den Kopf ab, als wolle sie ihre Reaktion vor ihm verbergen, schob die kleine ovale Fensterabdeckung in die Höhe und betrachtete das Stadtbild, wie es kurz vor Sonnenaufgang vor ihnen lag.