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„Ich werde selbstverständlich heute Abend einen Empfang bei uns geben. Es kommt nicht oft vor, dass die Dunklen Häfen von Berlin solch erlesenen Besuch bekommen. Besonders in der Agentur gibt es ein paar Leute, die darauf bestanden haben, euch persönlich willkommen zu heißen.“

„Kann ich mir denken“, knurrte Tegan verächtlich. „Ich habe kein Interesse daran, mich wie ein Affe im Frack einem Haufen Bürokraten und Societyschnösel aus den Dunklen Häfen vorführen zu lassen. Also sei mir nicht böse, Reichen, aber deine Anzugträger können mich mal am …“

Der Deutsche räusperte sich betont, als wollte er Tegan daran erinnern, in Anwesenheit einer Dame auf seine Ausdrucksweise zu achten. Verdammter Lackaffe mit seinen kultivierten Manieren, auf die sie in den Dunklen Häfen so großen Wert legten.

Ein rostiger alter Teil von Tegan musste zugeben, dass Elise vermutlich nicht zu hören brauchte, wie er die Kreise beschimpfte, in denen sie aufgewachsen war. Vor nicht allzu langer Zeit war sie noch vollkommen in dieser Welt aufgegangen - und wenn ihr Gefährte und ihr einziger Sohn noch am Leben wären, würde sie das auch heute noch tun.

Reichen lächelte und hob eine dunkle Augenbraue, als Tegan es sich verkniff, seine Meinung über die besseren Kreise weiter auszuführen.

Aber in Reichens dunklen Augen lag ein befriedigtes Funkeln, das wenig mit seiner aristokratischen Erziehung zu tun hatte. Es war Humor, trockene Belustigung.

„Also, Tegan, eigentlich wird dieser Empfang zu Ehren deiner bezaubernden Begleiterin gegeben. Vielleicht ist dir ja entgangen, dass Quentin Chase einer der wichtigsten Männer der Agentur war, und das nicht nur bei euch in den Staaten.“ Galant beugte Reichen den Kopf in Elises Richtung. „Es ist uns eine große Ehre, die Witwe des verstorbenen Herrn Direktors Chase bei uns zu empfangen, und es wird uns eine Freude sein, sie bei uns zu haben, solange sie das wünscht.“

Tegan machte ein finsteres Gesicht und warf Elise in der schwachen Innenbeleuchtung der Limousine einen verstohlenen Blick zu. Sie schien von dieser Ankündigung nicht sonderlich überrascht, eher resigniert, so als wäre sie an diese Art von Aufmerksamkeiten gewöhnt, wie Reichen sie beschrieben hatte.

Dieser ganze hochgestochene Societykram war nichts Besonderes für sie.

Scheiße.

Als sie gesagt hatte, sie könnte mit einem einzigen Anruf die gesamte Agentur auf den Orden hetzen, hatte sie nicht übertrieben. Dass ihr Gefährte ein Mann mit guten Verbindungen gewesen war, wusste Tegan, aber er hatte keine Ahnung davon gehabt, wie hoch sich Elise auf der Rangliste der Dunklen Häfen befand.

„Ihre Gastfreundschaft ehrt mich, Herr Reichen … Andreas“, verbesserte sie sich ernsthaft. „Ich danke Ihnen für diesen freundlichen Empfang.“

Jetzt starrte Tegan sie offen an, verblüfft darüber, wie einfach sie neben Reichen in die Rolle der Diplomatin verfiel. So entnervend kultiviert war sie mit ihm nicht gewesen, letzte Nacht im Hauptquartier. Nein, mit ihm war sie mutwillig und fordernd gewesen, hatte keine Skrupel gehabt, ihn zu benutzen, um zu bekommen, was sie wollte.

Und warum zur Hölle auch nicht?

Er wusste, wie in den Dunklen Häfen über den Orden gedacht wurde. Mit der Ausnahme einiger Männer der aktuellen Generation, die davon beeindruckt waren, wie der Orden im letzten Sommer das wichtigste Roguenest im Großraum Boston zerstört hatte, betrachtete der Grossteil der Vampirbevölkerung den Orden als eine Meute wild gewordener Pitbulls. Die Angehörigen der Agentur, die politisch auf Linie waren und die Position vertraten, dass die tödlichen Rogues eingefangen und einer Behandlung unterzogen werden mussten, was den Methoden des Ordens - umnieten, abhaken - diametral entgegengesetzt war, äußerten ihre Verachtung am lautesten.

Da sollte es ihn nicht wundern, wenn Elise als frühere Stammesgefährtin eines ihrer hochrangigsten Funktionäre Tegan lediglich als Mittel zum Zweck betrachtete.

Dass er sie von sich hatte trinken lassen, brannte in Tegan wie ein böser Strahl der Mittagssonne auf seiner Haut. Die Tatsache, dass er diese Frau auch nur das kleinste bisschen begehrte, ließ ihn wünschen, einfach nur aus dem fahrenden Wagen zu springen und loszurennen, bis die Sonne aufging. Ja, immerhin konnte er sie nun als das sehen, was sie war. Bevor er auf den Gedanken kam, sich mit dieser Frau noch mehr Dummheiten zu leisten.

16

Elise strich mit der Hand über die Lagen glänzender indigoblauer Seide, die sie umhüllten. Das ärmellose Abendkleid war atemberaubend, eines von über einem Dutzend Designerstücken, die Andreas Reichen früher am Tag für sie aus der Innenstadt hatte bringen lassen, damit sie daraus ihre Wahl treffen konnte. Sie hatte sich für das schlichteste Stück in der gedecktesten Farbe entschieden und wünschte sich eigentlich nichts mehr, als diesen Abendempfang einfach schwänzen zu können.

Den ganzen Tag schon hatte man sie behandelt wie eine Königin, und selbst nach ein paar erholsamen Stunden Schlaf war sie einfach nicht in der inneren Verfassung für den stundenlangen kultivierten Small Talk, der ihr im großen Ballsaal des Anwesens bevorstand. Aber nach jahrelanger Übung an Quentins Seite wusste sie, was von einem Mitglied der Familie Chase erwartet wurde: Die Pflicht ging über alles. Das war Quentins persönlicher Wahlspruch gewesen, und auch Elise war er mit der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Also hatte sie nach einer schnellen Dusche in ihrer Besuchersuite das eng anliegende dunkelblaue Abendkleid und ein Paar juwelenbesetzter Sandalen angezogen, ihr kurzes Haar in eine halbwegs annehmbare Form gebracht und war aus dem Raum geeilt, bereit, ihre Rolle zu spielen.

Zumindest hatte sie das vorgehabt.

Sobald sie die geschwungene Freitreppe des weitläufigen Wohnflügels herunterkam, brachte das Geräusch von Stimmen und eleganter Musik sie zum Stehen.

Das würde der erste öffentliche Empfang sein, den sie seit Quentins Tod besuchte. Bis sie vor vier Monaten ihren Dunklen Hafen verlassen hatte, war sie in Trauer gewesen, hatte die lange weiße Tunika und die purpurfarbene Schärpe einer verwitweten Stammesgefährtin getragen. Als solche hatte sie sich in ihrem Zuhause einigeln können und nur Menschen empfangen müssen, die sie wirklich sehen wollte. So war sie den mitfühlenden Blicken und dem Getuschel entgangen, die ihr Quentins Abwesenheit nur umso mehr in Erinnerung riefen.

Und das, erkannte sie jetzt, als Andreas Reichen ihr aus der Richtung des bevölkerten Ballsaals über die Marmorfliesen des Foyers entgegengeeilt kam, ließ sich nun nicht mehr vermeiden.

In seinem schwarzen Frack und dem gestärkten weißen Hemd sah Andreas umwerfend aus. Sein dunkles Haar trug er heute Abend in einem losen Pferdeschwanz, wodurch seine rasiermesserscharfen Wangenknochen und sein starkes, eckiges Kinn bestens zur Geltung kamen. Das warme Lächeln des gut aussehenden Deutschen, der ihr da entgegenkam, sorgte sofort dafür, dass ihr etwas leichter ums Herz wurde.

„Eine perfekte Wahl“, sagte er, „Sie sehen einfach exquisit aus.“ Seine dunklen Augen nahmen sie von Kopf bis Fuß in Augenschein, als er ihre Hand nahm und ihre Finger an die Lippen führte. Sein kurzer begrüßender Handkuss war federleicht und warm wie Samt. Er entließ sie mit einem leichten Nicken, und als sich ihre Blicke trafen, runzelte er die Stirn. „Ist etwas nicht in Ordnung? War nicht alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Nein, alles ist wunderbar“, versicherte sie ihm. „Es ist nur, dass … ich habe so etwas schon lange nicht mehr getan. Mich in der Öffentlichkeit aufgehalten. Die letzten fünf Jahre habe ich Trauer getragen …“

Reichens besorgte Miene verstärkte sich. „Trauer getragen?

All diese lange Zeit?“

„Ja.“

„Oh mein Gott. Sie müssen mir verzeihen, aber das habe ich nicht gewusst. Es tut mir leid. Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, und ich werde alle wieder wegschicken. Die anderen brauchen den Grund nicht zu erfahren.“

„Nein.“ Elise schüttelte den Kopf. „Nein, um so etwas würde ich Sie niemals bitten, Andreas. Sie haben sich solche Mühe gemacht, und schließlich ist es doch nur ein angenehmes Beisammensein. Ich kann das schaffen. Ich werde es schaffen.“