Sie konnte nicht umhin, an Reichens breiten Schultern vorbei nach dem einen Gesicht Ausschau zu halten, das sie kannte.
Zwar war Tegan alles andere als freundlich, aber immerhin war er ihr vertraut, und grimmig und ungehobelt oder nicht, seine Stärke würde ihr Trost spenden. In ihren Adern spürte sie ein leises Summen. Er musste hier im Herrenhaus sein, ganz in der Nähe, aber doch außerhalb ihres Blickfeldes.
„Haben Sie Tegan gesehen?“, fragte sie und versuchte, so zu klingen, als sei sie an der Antwort nur flüchtig interessiert.
„Nicht seit unserer Ankunft heute Morgen.“ Reichen lachte leise, als er sie von der geschwungenen Freitreppe in Richtung des Ballsaals führte. „Ich bin sicher, dass wir ihn auf dem Empfang nicht zu sehen bekommen. Für gesellschaftliche Anlässe hatte er noch nie etwas übrig.“
Das war wohl so. „Kennen Sie ihn gut?“
„Oh, das nicht gerade. Aber ich schätze, die wenigsten können behaupten, diesen Krieger gut zu kennen. Ich persönlich weiß alles über ihn, was ich brauche, um ihn als meinen Freund zu bezeichnen.“
Elise wurde neugierig. „Wie das?“
„Tegan kam mir vor einiger Zeit zu Hilfe, als es in der Gegend ein akutes, hartnäckiges Problem mit einer Horde Rogues gab. Es ist schon ewig her, in den frühen Achzehnhundertern …
im Sommer 1809 war es, genau.“
Zweihundert Jahre klangen für menschliche Ohren nach einer langen Zeit, aber Elise hatte selbst schon über ein Jahrhundert beim Stamm gelebt, nachdem die Familie Chase sie als kleines Kind aus den Slums von Boston gerettet hatte. Die Vampirreservate der Dunklen Häfen gab es in diversen Teilen Europas und in den Vereinigten Staaten schon sehr viel länger.
„Damals müssen die Umstände hier noch anders gewesen sein.“
Bei der Erinnerung an die alten Zeiten gab Reichen einen Grunzlaut von sich. „Anders, oh ja. Die Dunklen Häfen waren nicht annähernd so gut gesichert wie heute. Keine elektrischen Zäune, keine Bewegungsmelder, keine Kameras, um Sicherheitslücken zu melden. Damals waren unsere Probleme mit den Rogues normalerweise nur vereinzelte Vorfälle - ein oder zwei willensschwache Vampire, die der Blutgier verfallen waren und ein wenig unter der menschlichen Bevölkerung wilderten, bevor wir sie einfangen und einsperren konnten. Aber was 1809 passierte, war anders. Diese Rogues hatten begonnen, Menschen und Vampire gleichermaßen anzugreifen. Sie hatten sich beim Jagen zusammengeschlossen und betrieben das offenbar als eine Art Sport. Es gelang ihnen sogar, in einen unserer Dunklen Häfen einzubrechen. Noch vor dem Ende der ersten Nacht hatten sie eine Anzahl Frauen geschändet und getötet und auch einige Stammesvampire abgeschlachtet.“
Elise verzog das Gesicht, als sie sich den Schrecken vorstellte, der unter den Bewohnern dieser Gegend angesichts solcher Gewalttätigkeit geherrscht haben musste. „Wie hat Tegan Ihnen geholfen?“
„Er war gerade im Umland unterwegs, und als er in den Grunewald kam, fand er dort einen Verletzten aus meiner Gemeinde.
Als Tegan hörte, was hier geschehen war, tauchte er bei mir auf und bot uns seine Hilfe an. Wir hätten ihm selbstverständlich alles Geld der Welt angeboten, aber er wollte gar keine Bezahlung. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er hat jeden Einzelnen dieser Rogues zur Strecke gebracht und getötet.“
„Wie viele waren es denn?“
Jetzt war Reichens Miene ehrfürchtig. „Sechzehn dieser kranken Wilden.“
„Mein Gott“, keuchte Elise mit ehrlichem Staunen. „So viele …“
„Der Dunkle Hafen von Berlin, wie Sie ihn heute sehen, wäre vermutlich völlig ausgelöscht worden, wenn vor all diesen Jahren Tegan nicht gewesen wäre. Er hat alle sechzehn Rogues eigenhändig aufgespürt und getötet, und dann zog er einfach weiter. Ich habe erst Jahre später wieder von ihm gehört, nachdem er sich mit den paar überlebenden Mitgliedern des Ordens in Boston niedergelassen hatte.“
Elise fehlten die Worte angesichts dessen, was sie da gerade erfahren hatte. Ein Teil von ihr war von Reichens Bericht von Tegans heroischer Tat beeindruckt, aber einem anderen Teil von ihr war plötzlich eiskalt. Ein Gefühl drohender Gefahr breitete sich in ihr aus und brachte sie zum Erzittern. Dass Tegan ein erfahrener Krieger und ein extrem tödliches Individuum war, wusste sie ja. Aber zu welchen Gewalttaten er tatsächlich fähig war, davon hatte sie keine Ahnung.
Zu denken, dass sie sich ihm vorletzte Nacht einfach aufgedrängt hatte! Ihn zu dem Sakrileg verleitet hatte, eine Blutsverbindung mit ihr einzugehen. Wie sehr musste sie ihn beleidigt haben. Und doch hatte er sie erstaunlicherweise nicht angegriffen, was wohl einem Wunder gleichkam - wo er doch jedes Recht hatte, sie zu verachten, so, wie sie ihn benutzt hatte.
Herr im Himmel.
Wenn all die entsetzlichen Dinge, die man sie über die Ordenskrieger gelehrt hatte, auch nur im Entferntesten zutrafen, dann würde sie vermutlich gar nicht hier stehen. Jetzt registrierte sie, dass sich ihre Beine etwas schwach anfühlten. Das Summen in ihren Schläfen wurde lauter und lenkte sie ab wie ein wirbelnder Mückenschwarm.
„Andreas, ich … ich glaube, jetzt könnte ich wirklich einen Drink gebrauchen.“
„Natürlich.“ Reichen bot ihr den Arm, und sie nahm ihn nur allzu gern. „Kommen Sie, ich werde Sie der Runde vorstellen und dafür sorgen, dass Sie alles bekommen, was Sie möchten.“
Tegan wartete, bis sie gegangen waren, bevor er die drei Stockwerke vom obersten Treppenabsatz des Herrenhauses ins Erdgeschoss herunterkam. Er nahm die Treppe, obwohl er sich auch einfach über das geschnitzte Mahagonigeländer hätte schwingen können. So wäre er schneller unten im Marmorfoyer angekommen.
Den Tag über hatte er sich im Herrenhaus eingeigelt und den Einbruch der Dunkelheit abgewartet. Eben war er dabei gewesen, sich auf die Jagd nach Blut und Rogues zu machen, als der Klang von Elises Stimme ihn oben auf dem Treppenabsatz innehalten ließ. Er spähte hinunter, gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Reichen auf sie zueilte, um sie mit seinem üblichen dunklen Charme zu bezirzen. Seit ihrer Ankunft küsste er ihr nun schon zum zweiten Mal die Hand. Er nannte sie „exquisit“, und weiß Gott, das war sie, das war sie allerdings.
Das eng anliegende, indigoblaue Kleid - ein architektonisches Wunder einander überlagernder Seidenschichten und weiter, hauchdünner Röcke - betonte ihre zierliche Figur an den richtigen Stellen. Ihre nackten Schultern und ihr kurzes blondes Haar hoben den graziösen Schwung ihres Halses hervor, der Tegans Blick anzog wie ein Leuchtfeuer. Ihr Puls schlug hektisch unter ihrem Ohr, ein Rhythmus, der in seinen eigenen Adern widerhallte. Selbst jetzt, als sie aus seinem Blickfeld verschwand.
Verdammt, er musste schleunigst Nahrung zu sich nehmen.
Je schneller, desto besser.
Angetan mit seiner vollen Kampfmontur, ging Tegan geradewegs auf das Vestibül des Anwesens zu. Er konnte kaum erwarten, endlich hinauszukommen. Dabei ging er an den geöffneten Flügeltüren des großen Ballsaals vorbei, aus dem das jämmerliche Kratzen eines Streichquartetts und das chaotische Summen vielstimmiger Konversation ertönte. Offenbar war der Empfang bereits in vollem Gang, und Tegan ignorierte ihn.
Er versuchte, auch den Anblick von Elise an Reichens Arm zu ignorieren, als der weltgewandte Deutsche sie der versammelten High Society der Vampire von Berlin präsentierte. So elegant und kultiviert sah sie aus in all dem Geglitzer des Empfangs, passte perfekt zur Elite der Dunklen Häfen.
Das war ihre Welt; jetzt, als er sie sah, wie sie sich in ihren eigenen Kreisen bewegte, wurde es eine unbestreitbare Tatsache.
Dort gehörte sie hin, und sein Platz war draußen auf den Straßen, wo er sich seine Hände mit dem Blut seiner Feinde schmutzig machte.
Klar, dachte er und fühlte, wie heiße Wut in ihm aufstieg. Er gehörte überallhin, nur nicht hierher.