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Als sie an Reichens Arm weiter in den Ballsaal hineinging, durchkämmte Elise mit ihren Blicken die Menge der etwa fünfzig Anwesenden und erkannte tatsächlich einige Gesichter von früheren Veranstaltungen wieder, die sie damals zusammen mit Quentin besucht hatte. Jeder im Raum starrte sie an - schon von dem Moment an, als sie den Ballsaal betreten hatte. Gespräche brachen ab, Köpfe drehten sich. Als Andreas Reichen sie den Versammelten vorstellte, begann das Streichquartett, das auf der anderen Seite des Raumes spielte, ein leises, flüsterndes Stück.

Er stellte sie einem Gast nach dem anderen vor, präsentierte sie einer endlosen Reihe von Namen und Gesichtern, von der Elise schwindlig wurde und die sie sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr merken konnte. Sie nahm Beileidsbekundungen über Quentins Hinscheiden entgegen und hörte mit beträchtlichem Stolz, wie viele der versammelten Repräsentanten der Berliner Agentur von ihren Beziehungen mit ihrem geschätzten Gefährten erzählten. Etliche fragten sie, in welcher Angelegenheit sie nach Berlin gekommen sei, aber diesen Fragen wich sie so gewandt aus, wie sie nur konnte. Es erschien ihr nicht ratsam, Angelegenheiten des Ordens in einer so öffentlichen Arena zu diskutieren, und es wäre praktisch unmöglich, ihre Zusammenarbeit mit den Kriegern zu erwähnen, ohne erklären zu müssen, unter welchen Umständen sie diese überhaupt kennengelernt hatte.

Wie schockiert und angewidert diese Politiker aus den Dunklen Häfen wären, wenn sie wüssten, dass sie erst vor wenigen Tagen durch die Straßen von Boston gezogen war und Lakaien gejagt hatte!

Ein rebellischer Teil von ihr wünschte sich fast, mit dieser Wahrheit herauszuplatzen, nur um zu sehen, wie diesen steifen Zivilisten die Mimik entgleiste. Doch stattdessen nippte Elise nur an ihrem Weinglas, das Reichen ihr geholt hatte, und bemühte sich vergeblich, sich auf die Worte des deutschen Agenten zu konzentrieren, der seit fast einer Viertelstunde ununterbrochen auf sie einredete.

Der imposante blonde Mann, der über seine Adlernase auf sie heruntersah, legte sich mächtig ins Zeug, um sie damit zu beeindrucken, dass er fast schon sein ganzes Leben im Dienst der Agentur stand, überschüttete sie mit angeberischen Kriegsanekdoten aus über hundert Jahren, die er ihr offenbar bis ins allerkleinste Detail beschreiben wollte. Sie lächelte und nickte an den richtigen Stellen und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie ihr Weinglas ausgetrunken hatte.

Drei Sekunden, entschied sie, und kippte lässig den Rest des französischen Weins hinunter.

„Ihre Dienstjahre sind wirklich rühmenswert, Agent Waldemar“, sagte sie und entzog sich dem Gespräch. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden? Ich fürchte, mir ist der Wein etwas zu Kopf gestiegen.“

Der arrogante Agent reagierte verwirrt - schließlich habe sie noch gar nicht gehört, wie er damals nach einem Zusammenstoß mit einem Rogue im Stadtbezirk Tiergarten mit zwanzig Stichen genäht werden musste. Aber Elise lächelte ihm nur höflich zu und verschwand im Gewühl, wo es am dichtesten war.

Zwischen all den parfümierten, seidenumhüllten Körpern streckte sich plötzlich eine Hand aus und legte sich auf ihre.

„Elise? Meine Güte, wie wundervoll, dich zu sehen!“

Schon befand sie sich in einer festen, warmherzigen Umarmung. Als sie sich daraus löste, erfüllte sie eine Woge der Freude, das Gesicht einer lieben alten Freundin zu sehen. „Anna, hallo. Gut siehst du aus.“

„Es geht mir auch gut. Und du - wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben? Die Jungen waren ja noch so klein. Waren sie überhaupt schon sechs, als wir damals alle zusammen waren?“

„Sie waren sieben“, sagte Elise, als ein Ansturm der Erinnerungen sie traf. Camden und Annas Sohn Tomas hatten sich damals schnell angefreundet und einen ganzen Sommer miteinander verbracht, bevor die Agentur Annas Gefährten nach Europa abberufen hatte.

„Ich kann kaum glauben, wie schnell die Zeit vergeht“, rief die andere Stammesgefährtin aus, dann nahm sie Elises Hand in ihre beiden Hände. „Wir haben natürlich gehört, was mit Quentin geschehen ist. Es tut mir so leid, Elise. Mein Beileid, von ganzem Herzen.“

Elise versuchte, ein Lächeln hinzubekommen. „Danke dir. Es war … eine schwere Zeit. Aber ich gebe mir Mühe, mich an das Leben ohne ihn zu gewöhnen, so gut ich eben kann.“

Anna schnalzte mitfühlend mit der Zunge. „Armer Camden.

Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für ihn gewesen sein muss, seinen Vater zu verlieren, als er gerade erst in die Pubertät kam. Wie hält er sich? Ist er mit dir nach Berlin gekommen? Ich weiß, dass Tomas entzückt wäre, ihn zu sehen.“

Alles Blut schien Elise aus dem Kopf zu weichen angesichts dieser wohlmeinenden Fragen. Der namenlose Schmerz über seinen Verlust war immer noch so frisch in ihrem Herzen. So frisch, dass sie kaum ihre Stimme fand. „Camden ist … nun, er ist nicht hier. Vor einigen Monaten gab es in Boston einen Vorfall. Er … nun, er ist in Schwierigkeiten geraten, und er …“

Sie musste noch einmal tief Atem holen, um die Worte aussprechen zu können. „Camden ist ermordet worden.“

Anna wurde weiß vom Schock. „Oh, Elise! Vergib mir, ich hatte ja keine Ahnung …“

„Ich weiß. Das konntest du nicht wissen. Es ist schon gut.

Cam hatte einen raschen Tod, und nur sehr wenige wissen davon.“

„Oh, meine Liebe. Du hast so viel durchgemacht. Solche Tragödien durchzustehen … du musst die stärkste Frau sein, die ich kenne. So kurz nacheinander so viel zu verlieren … Es hätte mich umgeworfen, das weiß ich sicher. Ich glaube, ich hätte mich einfach zusammengerollt und wäre vor Schmerz gestorben.“

Es hätte auch Elise so gehen können. Der Herr allein wusste, dass sie es am Anfang genauso hatte machen wollen. Aber dann war ihre Wut gekommen und hatte sie durch ihr erstes Leid getragen.

Den restlichen Kummer würde ihr ihre Rache nehmen.

„Man tut, was man tun muss, um so etwas zu überleben“, hörte sie sich zu der niedergeschmetterten Frau sagen, die sie mit so viel Mitleid ansah, dass es wehtat. „Man tut einfach … was nötig ist.“

„Natürlich“, erwiderte Anna, deren Lächeln jetzt etwas angestrengt wirkte, es gelang ihr nicht recht, ihr Unbehagen über die unangenehme Richtung, die das Gespräch genommen hatte, zu verbergen. „Wie lange bist du hier? Wenn du Zeit hast, könnte ich dir die Stadt zeigen. Wir haben hier wunderbare Parks und Museen …“

„Vielleicht.“ Elise sah auf ihr Weinglas hinab, als hätte sie eben erst bemerkt, dass es leer war. „Wenn du mich bitte entschuldigen würdest? Ich glaube, ich werde jetzt einen kleinen Spaziergang machen und mir davor noch etwas zu trinken holen.“

„Sicher“, sagte Anna, die Augen immer noch weich vom Mitgefühl. „Es war schön, dich zu sehen, Elise. Wirklich.“

Elise gab der Hand ihrer Freundin einen leichten Druck.

„Dich auch.“

Als sie sich anschickte, weiterzugehen, wogte plötzlich ein tiefes Gemurmel durch die Menge. Elise brauchte sich gar nicht umzudrehen, um zu sehen, was der Grund dafür war; sie spürte es an der plötzlichen Unruhe tief in ihren Knochen und am warmen, wissenden Prickeln, das sich in ihrer Brust auszubreiten begann.

„Um Himmels willen“, murmelte der Agent Waldemar in wenigen Metern Entfernung von ihr. Er und einige seiner Spießgesellen starrten in offener Verachtung zum Eingang des Ballsaales. „Man müsste doch meinen, dass er zumindest den Anstand besitzen sollte, zu einem solchen Anlass in angemessener Kleidung zu erscheinen. Jämmerliche Wilde, jeder Einzelne von ihnen.“

Elise warf den Kopf herum und sah Tegan, der soeben den Ballsaal betrat. Er bot schon einen furchterregenden Anblick, in voller Kampfmontur und bis an die Zähne bewaffnet. Sein überlanges, zottiges Haar stand ihm wild um den Kopf und die breiten, ledergepanzerten Schultern, und in seinem grünäugigen Blick lag eine tödliche Schärfe, als er lässig über die Köpfe der Menge hinwegsah.