Tegan folgte dem metallischen Geruch, und plötzlich fiel sein Blick auf eine kleine, zierliche Gestalt in einem langen Kapuzenanorak, die die Hauptgeschäftsstraße hinaufeilte, am Bahnhof vorbei. Ihr Gang hatte etwas Nervöses, als wollte sie um keinen Preis bemerkt werden, und den Kopf hielt sie tief gesenkt. Jetzt löste sich die Gestalt aus einer Gruppe Passanten und huschte in eine leere Seitenstraße hinein.
„Was zum Teufel hast du wohl angestellt?“, murmelte Tegan und nahm die Verfolgung auf.
Ob es ein Mann oder eine Frau war, ließ sich unter dem langen, gesteppten Anorak nicht erkennen. Wie auch immer, dieser Mensch da unten würde gleich sehr unliebsame Gesellschaft bekommen.
Tegan sah den Rogue einen Augenblick, bevor er aus seinem Versteck hervorgekrochen kam, neben einem Müllcontainer einige Meter vor dem Menschen. Was da unten gesprochen wurde, konnte er nicht hören, aber der drohende Gang und die gelb glühenden Augen des Vampirs deuteten daraufhin, dass er kurz davor stand, den Menschen anzugreifen - und dass er offenbar plante, sich vorher noch etwas mit seiner Beute zu amüsieren. Jetzt kamen von hinten noch zwei weitere Rogues um die Ecke und kreisten ihr Opfer ein.
„Verdammt“, knurrte Tegan und rieb sich das Kinn.
Für den noblen Ehrbegriff des Stammes, der verlangte, dass sich seine Spezies den Menschen gegenüber, die mit ihnen diesen Planeten bewohnten, als unbesungene Helden betätigte, hatte er nie viel übriggehabt. Selbst als Halbmensch, wie auch alle anderen Stammesvampire, hatte Tegan den Ehrgeiz, den Helden zu spielen, schon vor langer Zeit aufgegeben. Dafür hatte er schon zu viel Blutvergießen, zu viel sinnloses Morden und tragische Verluste auf beiden Seiten mit angesehen.
Sein Ziel, jetzt und in den letzten fünfhundert Jahren - seit die einzige Frau, die er je geliebt hatte, brutal gefoltert und ermordet worden war -, war recht einfach: so viele Rogues auszulöschen wie nur irgend möglich oder bei dem Versuch zu sterben. Was zuerst kam, war ihm herzlich egal.
Aber es gab einen alten Teil seines Selbst, der beim Gedanken an schlimme Ungerechtigkeiten, wie sie dort unten auf der Straße eben im Gange waren, immer noch aufbegehrte.
Der Mensch im blutbefleckten Anorak wurde umzingelt.
Wie Haie, die ihre Beute einkreisten, kamen die Rogues immer näher heran. Plötzlich hob sich der Kopf unter der Kapuze, fuhr herum und bemerkte die Bedrohung von hinten. Aber es war schon zu spät. Gegen einen Blutsauger in voller Blutgier hatte kein Mensch eine Chance, geschweige denn gegen drei von ihnen.
Mit einem Fluch sprang Tegan auf ein niedrigeres Flachdach über der Gasse und brachte sich in Stellung.
Gerade in dem Moment, als der vorderste Rogue den Menschen ansprang.
Tegan hörte ein scharfes Atemholen - der Schreckenslaut klang eindeutig weiblich. Der Rogue packte die Frau vorne an der Kapuze, schleuderte sie auf den schneebedeckten Asphalt und heulte in wilder Belustigung auf, als sie hart auf dem Boden aufschlug.
„Lieber Himmel“, zischte Tegan und zog eine mächtige Klinge aus der Scheide an seiner Hüfte.
Mit einem gewaltigen Satz sprang er von der Dachkante und landete geschmeidig und tief geduckt auf dem Boden. Die beiden Rogues, die ihm am nächsten standen, trennten sich, einer ging in Deckung, der andere stieß einen Warnschrei aus. Tegan brachte ihn zum Schweigen, indem er dem Blutsauger die titanbeschichtete Stahlklinge über die Kehle zog.
Einige Meter vor ihm in der Gasse lag die Frau auf dem Bauch und versuchte verzweifelt, ihrem Angreifer davonzukriechen. Überrascht bemerkte Tegan, dass auch sie eine Waffe hatte, aber der Rogue bemerkte es ebenfalls und trat sie ihr aus der Hand. Er rammte ihr seinen schweren Stiefel in den Rücken und nagelte sie mit seinem Absatz auf dem Boden fest.
Sofort war Tegan auf ihm. Er riss den Rogue von der Frau herunter, schleuderte den wild aufknurrenden Vampir gegen die Wand des Backsteingebäudes und hielt ihn dort, den Unterarm unter das Kinn des Blutsaugers gerammt.
„Verschwinde!“, rief er der Frau zu, die gerade wieder mühsam auf die Füße kam. „Lauf!“
Sie warf einen angstvollen Blick über die Schulter, und zum ersten Mal konnte Tegan ihr Gesicht sehen, und ein riesiges, veilchenfarbenes Augenpaar. Die Frau starrte ihn über ihren dunklen Strickschal hinweg an, dem es kaum gelang, ihre zarte Schönheit zu verbergen.
Ach du Scheiße!
Er kannte sie.
Sie war nicht einfach irgendeine Menschenfrau. Sie war eine Stammesgefährtin, eine junge Witwe aus einem der Dunklen Häfen, den Vampirreservaten der Stadt. Tegan kannte sie nicht näher. Er hatte sie schon einige Monate nicht gesehen, nicht seit der Nacht, als er sie vom Hauptquartier der Stammeskrieger nach Hause gebracht hatte. Da hatte sie gerade erfahren, dass ihr einziger Sohn zum Rogue mutiert war.
Damals hatte er sie zum letzten Mal gesehen, aber gedacht hatte er seither öfter an sie.
Elise.
Was zur Hölle machte sie hier?
Tegans ausdrucksloser Blick hielt Elise gebannt, der Moment schien sich in die Ewigkeit auszudehnen. Sie sah ein erkennendes Aufblitzen im Blick des Stammeskriegers, fühlte, wie kalte Wut in ihm aufstieg und über die Entfernung auf sie einströmte.
„Tegan“, flüsterte sie, erstaunt zu sehen, dass er es war, der da zu ihrer Rettung kam. Sie hatte den furchterregenden Krieger zum ersten Mal in der Zeit getroffen, als ihr Sohn verschwand.
Tegan hatte sie vom Hauptquartier der Stammeskrieger nach Hause begleitet, nachdem sie erfahren hatte, dass Camden zum Rogue geworden war. Er war freundlich zu ihr gewesen, auf der nächtlichen Fahrt zu ihrem Dunklen Hafen, und obwohl sie den Krieger in den vier Monaten, die seither vergangen waren, nicht gesehen hatte, hatte sie sein unerwartetes Mitgefühl nicht vergessen.
Aber davon war momentan nichts zu spüren. Die Kampfeswut hatte sein Gesicht transformiert: Es zeigte die typischen Züge eines Stammesvampirs, mit glänzenden Fangzähnen und wilden Augen, die nicht länger ihre übliche smaragdgrüne Farbe hatten, sondern von hellem, glühendem Bernsteingelb überschwemmt waren und in seinem Schädel brannten wie Zwillingsflammen.
„Lauf!“, rief er wieder, das tiefe, unirdische Knurren seiner Stimme schnitt durch die Musik, die aus ihrem Kopfhörer plärrte. „Verschwinde hier - sofort!“
Diese momentane Unaufmerksamkeit kam ihn teuer zu stehen. Der Rogue, den er vor sich an die Wand gedrückt hielt, verdrehte seinen riesigen Schädel. Sein Maul klaffte, von den riesigen Fangzähnen troff der Speichel, und dann verbiss er sich in Tegans Unterarm, zerfetzte das muskulöse Fleisch des Kriegers. Dieser gab keinen Laut von sich, zeigte weder Schmerz noch Wut, sondern riss nur mit kalter, unerbittlicher Effizienz den anderen Arm hoch und bohrte dem Rogue die Klinge in den Hals. Der verseuchte Vampir fiel leblos zu Boden, seine Leiche begann, sich von innen heraus zu zersetzen, als das Titan seinen verdorbenen Blutkreislauf vergiftete.
Tegan fuhr blitzschnell herum, sein Atem ging keuchend und bildete Wolken in der kalten Luft. „Verdammt noch mal, Frau - lauf!“, brüllte er, gerade als sich der übrig gebliebene Rogue in einem erneuten Angriff auf ihn stürzte.
Und Elise lief los.
Sie schoss aus der Gasse auf die Straße hinaus, rannte so schnell ihre Beine sie trugen. Ihre kleine Mietwohnung war nicht weit entfernt, nur ein paar Häuserblocks hinter dem Bahnhof, aber jetzt kam ihr die Entfernung endlos vor. Sie war erschöpft von den Torturen, die sie an diesem Tag durchgemacht hatte, und zitterte von der Gewalt, die sie gerade in der Gasse miterlebt hatte.
Sie machte sich auch Sorgen um Tegan, obwohl sie sicher war, dass er ihre Besorgnis nicht nötig hatte. Er war ein Ordenskrieger. Wenn man seinem Ruf Glauben schenken konnte, wahrscheinlich der tödlichste von allen. Eine Killermaschine, wie alle sagten, die seinen Namen kannten. Nachdem sie ihn eben in Aktion gesehen hatte, zweifelte Elise keine Sekunde daran.
Nun, da man sie allein in der Stadt entdeckt hatte, konnte sie nur hoffen, dass der Krieger kein Interesse an dem zeigte, was sie tat. Sie konnte nicht erlauben, dass man sie zurück in den Dunklen Hafen brachte, nicht einmal einem so furchterregenden Mann wie Tegan.