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Er war schon dabei, sie wütend anzufahren und ihr zu sagen, dass sie überhaupt nichts über ihn wusste, über das, was er durchgemacht hatte. Wie kam sie darauf, dass sie sich auch nur ansatzweise vorstellen konnte, wie er sich fühlte? Aber als er hinter sie trat, sah er, dass sie zitterte. Heftig zitterte, und nicht nur von der Kälte.

Lieber Himmel, weinte sie etwa?

„Elise …“

Sie schüttelte den Kopf und ging weiter den Rasen hinauf, aus seiner Reichweite. „Ich sagte, geh weg!“

Tegan folgte ihr. Schneller, als menschliche Augen wahrnehmen konnten, stand er vor ihr und verstellte ihr den Weg.

Blasse, tränenfeuchte Augen blickten auf und weiteten sich, bevor sie sich anschickte, ihm auszuweichen. Doch ihr gelang nicht einmal ein einziger Schritt. Er griff nach ihr und hielt sie fest, die Hände auf ihren zitternden, nackten Schultern.

Im selben Moment, als seine Fingerspitzen ihre Haut berührten, fuhr ihr Kummer ihm durch Körper und Seele. Sein Verhalten hatte die Situation nicht gerade verbessert, aber das meiste, was er fühlen konnte, ging tiefer und war düsterer als die Wut, die er in ihr ausgelöst hatte. Tegan spürte, wie ihre Gefühle durch seine Fingerspitzen in ihn einströmten, und erkannte den kalten Schmerz des Verlusts. Er war wieder frisch, wie eine Wunde, die aufgebrochen war, bevor sie hatte verheilen können.

„Was ist da drin passiert?“

„Nichts“, log sie, ihre Stimme belegt vor Kummer. „Es geht ja vorbei, nicht?“

Seine eigenen Worte. Genau das hatte er in ihrer Wohnung zu ihr gesagt, als er ihre Trauer über ihren Verlust so kaltherzig abgeschmettert hatte. Jetzt gab sie es ihm nur zurück. Ihre lavendelblauen Augen baten ihn stumm, ihr etwas Freundliches zu sagen, hofften, dass er auf den Gedanken kam, ihr seinen Trost anzubieten.

Und das wollte er. Die Erkenntnis traf ihn hart und fuhr ihm wie ein Schlag mitten in die Brust. Er wollte sie nicht leiden sehen.

Er wollte … Gott, was diese Frau anging, hatte er keine Ahnung, was genau er wollte.

„Ich weiß, was du durchmachst“, gab er mit ruhiger Stimme zu. „Ich weiß, was es heißt, jemanden verloren zu haben, Elise.

Mir ging es genauso.“

Ach, zum Teufel noch mal.

Was machte er da? Sobald er die Worte ausgesprochen hatte, erhob sich ein uralter Teil von ihm in defensiver Panik. Er hatte seine düstere Geschichte seit Ewigkeiten niemandem mehr erzählt. Er wusste, dass er sich verwundbar machte, dass ein lange schlafendes Ungeheuer nun erwachte und ihr eine Blöße bot, aber es war zu spät, dieses Eingeständnis zurückzunehmen.

Elises Kummer wich einer zarten Überraschung. Einem Mitgefühl, von dem er nicht wusste, ob er es annehmen konnte.

„Wen hast du verloren, Tegan?“

Er ließ seinen Blick über das mondbeschienene Wasser und die funkelnden Lichter auf der anderen Seite des Sees schweifen und dachte zurück an eine Nacht, die er vor seinem inneren Auge schon Tausende von Malen immer wieder aufs Neue durchlebt hatte. Über fünfhundert Jahre lang hatte er sich alternative Szenarien ausgemalt - Dinge, die er hätte anders machen können, sollen, müssen -, aber das Ergebnis blieb immer dasselbe. „Sie hieß Sorcha. Vor langer Zeit, als wir den Orden gerade erst gegründet hatten, war sie meine Stammesgefährtin. Eines Nachts, als ich auf Patrouille war, wurde sie von Rogues entführt.“

„Oh, Tegan“, flüsterte Elise. „Haben sie … ihr wehgetan?“

„Sie ist tot“, erwiderte er, stellte einfach eine Tatsache fest.

Er dachte nicht, dass sie die grauenvollen Einzelheiten würde hören wollen. Darüber, wie ihre Entführer sie zu ihm zurückgeschickt hatten, vergewaltigt, misshandelt, nur noch die zerbrochene Hülle der Frau, die sie einst gewesen war. Gott wusste, wie wenig er über die Schuldgefühle und die Wut reden wollte, die ihn zerrissen hatten, als Sorcha lebend zurückgekommen war - aber kaum lebendig, ihres Blutes und ihrer Menschlichkeit beraubt. Zu seinem Entsetzen war Sorcha als Lakaiin zu ihm zurückgekommen.

Tegan hatte in diesen dunklen Tagen, die auf die Entführung und Rückkehr seiner Stammesgefährtin folgten, seinen Verstand und seine Selbstkontrolle verloren. Die Blutgier hatte ihn übermannt, er war nur um Haaresbreite davon entfernt gewesen, die tödliche Grenze zu überschreiten und zum Rogue zu werden.

Und alles für nichts.

Als Sorcha endlich der Tod ereilte, war er eine Gnade für sie.

„Ich kann sie nicht zurückbringen, und ich kann nicht ungeschehen machen, was damals geschehen ist.“

„Nein“, sagte Elise leise. „Wenn wir das nur könnten. Aber wie lange dauert es, bis wir aufhören, uns die Schuld zu geben für alles, was wir hätten anders machen sollen?“

Jetzt sah er auf sie herunter, das Gefühl von innerer Verbundenheit war ihm neu und fremd. Aber es war das Bedauern in ihren Augen, das etwas langsam auftauen ließ. „Nicht du warst es, Elise, die deinem Sohn die Droge gegeben hat, die ihn zum Rogue machte. Nicht du warst es, die ihn in diesen Abgrund gestoßen hat.“

„Nicht? Ich habe immer gedacht, ich beschütze ihn, dabei habe ich ihn die ganze Zeit zu fest gehalten. Er hat rebelliert. Er wollte ein Mann sein - er war ein Mann -, aber ich konnte nicht ertragen, mein Kind zu verlieren. Er war doch alles, was mir noch geblieben war. Je mehr ich versuchte, ihn bei mir zu halten, desto stärker zog es ihn fort von mir.“

„Jeder Jugendliche macht das durch, Elise. Das bedeutet nicht, dass du für seinen Tod verantwortlich bist.“

„Als ich ihn das letzte Mal sah, haben wir uns gestritten“, platzte sie heraus. „Camden wollte auf eine Party gehen - einen Rave nannte er es, glaube ich. Zu diesem Zeitpunkt wurden schon ein paar Jungen aus den Dunklen Häfen vermisst, also machte ich mir Sorgen, dass ihm etwas passieren könnte. Ich habe ihm verboten, hinzugehen. Ich habe ihm gesagt, wenn er hingeht, brauche er gar nicht wieder nach Hause kommen. Es war nur eine leere Drohung, ich hab’s doch gar nicht so gemeint …“

„Himmel“, murmelte Tegan. „Wir alle sagen Dinge, die uns später leidtun, Elise. Du hast doch nur versucht, dafür zu sorgen, dass er in Sicherheit ist.“

„Und stattdessen habe ich ihn umgebracht.“

„Nein. Die Blutgier hat ihn umgebracht. Marek und der Mensch, den er dafür bezahlt hat, Crimson zu entwickeln, haben deinen Sohn auf dem Gewissen. Nicht du.“

Sie schlang die Arme um sich und schüttelte stumm den Kopf. Ihm entging nicht, dass ihr wieder Tränen in die Augen schossen.

„Du zitterst ja.“ Tegan zog den schweren Ledermantel aus und hing ihn ihr um die Schultern, bevor sie dagegen protestieren konnte. „Es ist kalt. Du solltest nicht hier draußen sein.“

Zumindest nicht mit ihm, dachte er, so sehr in Versuchung, sie zu berühren.

Bevor er sich zurückhalten konnte, hob er seine Hand an ihre Wange und strich ihr die Nässe von der blassen Haut. Er streichelte ihr Gesicht, fuhr mit seinem Daumen über ihre Lippen.

Es fiel ihm nur zu leicht, sich daran zu erinnern, wie süß ihr Mund gewesen war, als er sich an sein Handgelenk gepresst hatte. Wie heiß sich ihre Zunge angefühlt hatte, als sie an ihm geleckt, sich an seinem Blut gestärkt hatte.

Wie das Gefühl ihres Körpers ihn entflammt hatte, als er sich so hungrig an ihm rieb.

Er wollte das wieder spüren, wollte es mit einer Wildheit, die ihn erschreckte.

„Tegan, bitte … nicht.“ Elise seufzte und schloss die Augen, als wüsste sie, welche Richtung seine Gedanken gerade nahmen.

„Tu’s nicht, wenn es dir nicht ernst ist. Berühre mich nicht so, wenn du … wenn du nichts dabei empfindest.“

Er hob ihr Kinn. Seine Fingerspitzen strichen zärtlich über ihre zarten Augenlider, zwangen sie, ihn anzusehen. Langsam öffnete sie die Augen. Dunkle Wimpern umrahmten wunderschöne helle, amethystfarbene Seen.

„Sieh mich an, Elise. Sag mir, was du denkst, was ich fühle“, murmelte er, dann beugte er den Kopf zu ihrem und drückte seinen Mund auf ihre leicht geöffneten Lippen.