„Sie haben eine Frau zu diesem Vieh reingeschickt?“
„Sie ist seine Stammesgefährtin“, erwiderte Kuhn. „Die beiden waren lange zusammen, bevor er der Blutgier verfiel und zum Rogue mutierte. Sie kommt jede Woche, um ihn zu füttern, und um sich ihre Nahrung von ihm zu holen. Sie muss ihre eigene Gesundheit und Langlebigkeit bewahren, um ihm weiterhin helfen zu können. Er kann sich wirklich glücklich schätzen, dass sie sich so aufopfernd um ihn kümmert. Die meisten unserer Patienten haben keine Gefährtinnen, also können wir sie nur mit Spenderblut ernähren.“
Jetzt näherte sich Elise der Scheibe, offenbar gebannt von dem, was sie sah, so sehr es sie auch abstieß. „Wie haben Sie diese anderen Spender gefunden, Dr. Kuhn?“
Er zuckte die Achseln, als sie über die Schulter zu ihm zurücksah. „Das ist nicht allzu schwierig. Studenten, die gegen einen kleinen Betrag bereit sind, an medizinischen Studien teilzunehmen; Prostituierte, Obdachlose … wenn wir knapp sind, nehmen wir auch Drogenabhängige.“
„Scheiße“, knurrte Tegan sarkastisch. „Da leiten Sie wirklich eine Klinik allererster Güte.“
„Im Allgemeinen kommt niemand dabei zu Schaden“, erwiderte Kuhn mit einem ungehaltenen Lächeln. „Die Prozedur wird genau überwacht, und keiner unserer Spender behält die Erinnerung daran. Wir entlassen sie danach zurück in ihr übliches Leben, mit etwas Bargeld in der Tasche, das sie sonst nicht hätten. Hier etwas Zeit zu verbringen ist das Beste, was manchen dieser Unglücklichen geschehen kann, die wir als Spender einsammeln.“
Tegan wollte dem eingebildeten Anzugträger schon eine schneidende Bemerkung an den Kopf werfen, aber es war weniger als vierundzwanzig Stunden her, dass er selbst in den dunklen Straßen Berlins nach Blut gejagt hatte. Er hatte getötet, was er vor sich selbst mit dem Wissen rechtfertigen konnte, dass es nun einen Kriminellen weniger gab, der hilflose Frauen anfiel.
Aber zum Heiligen machte ihn das noch lange nicht. In ihrem tiefsten Kern waren alle Stammesvampire selbstsüchtige, rücksichtslose Raubtiere. Einige von ihnen versuchten nur, diese Tatsache hinter sterilen weißen Wänden und einem riesigen Aufgebot von Klinikausrüstung zu verbergen.
„So, das war’s schon“, verkündete der Anstaltsleiter, als von der Konsole neben dem Beobachtungsfenster ein hohes Piepen ertönte. „Die Fütterungsprozedur ist abgeschlossen. Sobald der Patient allein ist und sich erholt hat, können wir hinein zu ihm.“
Sie warteten, bis Odolf der Schlauch abgenommen wurde.
Der Vampir kämpfte dagegen an, seine unstillbare Sucht nach Blut ließ ihn hinter der Drahtmaske beißen und knurren, als die Pfleger ihn von seiner Droge abschnitten. Er kämpfte gegen seine Fesseln an, aber seine Anstrengungen waren verlangsamt und ineffektiv, ohne Zweifel aufgrund der Beruhigungsmittel, die Kuhn vorhin erwähnt hatte.
Die Dermaglyphen des Rogue flimmerten immer noch wild.
Sie changierten von tiefen Purpurtönen über Rot zu Schwarz, den Farben wilden, wütenden Hungers, die da über die Muster auf seinem nackten Oberkörper und den Schultern wanderten.
Seine riesigen Fangzähne blitzten bei seinem Protestgeheul knochenweiß auf. Seine Pupillen waren zu vertikalen Schlitzen erstarrt, die Iriskreise strahlten von gelbem Licht, jedes Mal, wenn er versuchte, den Schädel vom Untersuchungstisch zu heben.
Obwohl er betäubt war, hatte ihn der Geschmack von Blut bis zum Wahnsinn gereizt - wie das bei allen Rogues der Fall war.
Tegan sollte das wissen. Einst hatte er einen ähnlichen Durst verspürt und vor Wut getobt. Zum Glück war er nicht zum Rogue mutiert wie dieser Mann, war aber verdammt nahe daran gewesen. Diesen Blutjunkie nun so aus der Nähe zu sehen rief in ihm die Erinnerung daran wach, wie es sich angefühlt hatte, damals, in diesen dunklen Monaten, als Tegan gegen seine Schwäche angekämpft hatte.
Während Peter Odolf sich so vergeblich gegen seine Fesseln stemmte, stand seine Stammesgefährtin von ihrem Untersuchungstisch auf und näherte sich ihm vorsichtig. Sie hielt die Hände eng an den Körper gepresst, obwohl ihrer gequälten Miene nur zu deutlich anzusehen war, wie gern sie ihren Gefährten berührt hätte. Sie sagte etwas zu ihm, zu leise, als dass man es über die Überwachungslautsprecher der Zelle hören konnte, dann wandte sie sich ab und kam auf die Tür zum Beobachtungsraum zu. Im Gehen wischte sie die Tränen von ihren sommersprossigen Wangen.
Kuhn öffnete ihr die Tür, und sie schien überrascht zu sehen, dass sie Zuschauer gehabt hatte. Ihr Gesicht wurde tiefrot, und so, wie sie den Blick senkte, war nicht zu übersehen, dass sie sich schämte. „Wiedersehen“, murmelte sie und versuchte, auf schnellstem Weg auf den Korridor zu gelangen.
„Sind Sie in Ordnung?“, fragte Elise sanft.
Die Stammesgefährtin nickte, doch sie war etwas wacklig auf den Beinen, und aus ihrer Kehle drang ein Schluchzen, gebrochen und roh. „Würden Sie mich bitte entschuldigen?“
„Hier entlang“, sagte Dr. Kuhn, als die Gefährtin des Rogue aus der Tür schlüpfte und den Korridor hinunterging. „Ich kann Ihnen nicht länger als zehn Minuten mit ihm gestatten, Mrs Chase. Und ich muss wiederholen, dass ich es für das Beste hielte, den Krieger …“
„Eigentlich möchte ich, dass Tegan die Befragung ohne mich durchführt“, sagte Elise mit selbstbewusster Autorität in der Stimme.
„Wie … ohne Sie?“ Kuhns Augenbrauen stießen wütend auf seiner Stirn zusammen. „Das entspricht in keinster Weise unseren Abmachungen.“
„Jetzt tut es das. Ich werde diese arme Frau nicht einfach in so einem Zustand gehen lassen“, sagte sie und sah Tegan an.
„Tegan wird sich mit Peter Odolf unterhalten. Ich habe vollstes Vertrauen zu ihm, Dr. Kuhn, und versichere Ihnen, dass auch Sie ihm vertrauen können.“
Sie wartete nicht ab, um sich den wütenden Protest des Anstaltsleiters anzuhören, sondern eilte aus dem Überwachungsraum und lief der aufgewühlten Stammesgefährtin von Peter Odolf nach wie ein Spürhund in Designerkostüm und Stilettos.
Tegan hätte fast gelächelt. Stattdessen warf er Kuhn einen ausdruckslosen Blick zu.
„Nach Ihnen“, sagte er und ließ keinen Zweifel daran, dass es dem Anstaltsleiter nicht gelingen würde, ihm den Zutritt zu dieser Zelle zu verwehren.
20
Elise fand die Stammesgefährtin weiter unten im Korridor. Weit war sie noch nicht gekommen. Die junge Frau hatte sich auf eine gepolsterte Bank gesetzt und das Gesicht in den Händen vergraben. Sie weinte leise, aber ihre beherrschten Schluchzer brachten ihren ganzen Körper zum Zittern.
„Es tut mir sehr leid“, murmelte Elise, unsicher, ob sie sich in einem solch privaten Moment einmischen durfte, und doch zu bewegt von dem, was sie eben mit angesehen hatte, um die Stammesgefährtin mit ihrem Leiden alleine zu lassen. Sie fischte ein Päckchen Papiertaschentücher aus ihrer Tasche und hielt sie der Frau hin, während sie näher an sie herantrat. „Hätten Sie gerne ein paar von denen?“
Rot geränderte, hellbraune Augen hoben sich, um Elise anzusehen. „Ja, danke schön. Ich denke immer, ich werde für ihn stark sein, aber es ist so schwer. Es wird nie leichter, ihn so zu sehen, wie er jetzt ist.“
„Natürlich.“ Elise setzte sich neben sie. „Ich bin übrigens Elise.“
„Irina“, antwortete sie leise. „Peter ist mein Gefährte.“
„Ja, ich weiß. Der Anstaltsleiter hat es uns gesagt.“
Sie sah hinunter, als sie eines der gefalteten Papiertaschentücher aus der Packung nahm. „Sie sind aus Amerika?“
„Boston.“
„So weit fort. Dr. Kuhn hat mich informiert, dass jemand kommt, um meinen Gefährten zu befragen, aber er konnte mir nicht sagen, warum. Was wollen Sie von Peter?“