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Elise rannte den letzten Block zu ihrer Wohnung entlang und die Betontreppe hinauf. Der Haupteingang war normalerweise abgeschlossen, aber vor fünf Wochen hatte jemand das Schloss aufgebrochen, und der Hauswart hatte es noch nicht geschafft, es zu reparieren. Elise drückte die Tür auf, rannte den Korridor entlang zu ihrer Wohnung. Sie schloss den extrastarken Riegel auf, der auf ganzer Breite an die Tür angeschraubt war, schlüpfte hinein und machte sofort alle Lichter an.

Als Nächstes waren Stereoanlage und Fernseher an der Reihe.

Beide waren nicht auf einen speziellen Sender eingestellt, liefen aber mit voller Lautstärke. Elise zog die Kopfhörer ihres MP3-Players ab und legte das Gerät auf die angeschlagene gelbe Küchenablage, zusammen mit dem Handy des toten Lakaien. Ihren ruinierten Anorak warf sie neben ihrem Crosstrainer auf den Boden. Als das Licht der nackten Glühbirne, die von der Decke des Wohnschlafzimmers baumelte, die dunkelroten Blutflecken des Lakaien beleuchtete, drehte sich ihr fast der Magen um. Sie hatte es auch an den Händen, ihre Finger waren klebrig von Blut.

Immer noch dröhnte ihr Kopf von der bösen Migräne, die sich stets einstellte, wenn sie ihre Gabe über längere Zeit benutzte. Die Kopfschmerzen waren aber noch nicht so schlimm, wie sie schon bald sein würden. Sie hatte noch Zeit, um sich zu säubern und zu versuchen, ins Bett zu kommen, bevor der schlimmste Anfall über sie hereinbrechen würde.

Elise schleppte sich ins Badezimmer und drehte die Dusche an. Mit zitternden Fingern schnallte sie die Lederscheide von ihrem Oberschenkel und legte sie aufs Waschbecken. Die Scheide war leer. Sie hatte die Titanklinge im Schnee verloren, als der Rogue sie ihr aus der Hand getreten hatte. Aber sie hatte andere.

Ein Großteil des Geldes, mit dem sie ihren Dunklen Hafen verlassen hatte, war in Waffen und Trainingsausrüstung geflossen - Dinge, von denen sie nie etwas hatte wissen wollen, die sie jetzt aber als Notwendigkeit betrachtete.

Oh Gott, wie drastisch sich ihr Leben in den letzten vier Monaten verändert hatte.

Nie wieder würde sie in ihr altes Leben, ihr altes Ich zurückkehren können. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es kein Zurück mehr gab. Die Person, die sie gewesen war, solange sie im Schutz des Stammes gelebt hatte, war verschwunden - tot, so wie ihr geliebter Gefährte und ihr Sohn. Der Schmerz über diese beiden Verluste war zu einem Hochofen geworden, der ihr altes Leben verschlungen und verbrannt hatte wie Zunder. Jetzt war sie der Phönix, der sich aus der Asche erhoben hatte.

Elise sah zum beschlagenen Spiegel auf, in ihren eigenen, gehetzten Blick. Wangen und Kinn waren blutverschmiert, an ihrer Stirn klebte eine Matschkruste - sie sah aus, als trüge sie Kriegsbemalung. In den erschöpften Augen, die sie aus dem Spiegel anstarrten, lag ein wildes Glitzern.

Gott, wie müde sie war. So müde. Aber solange sie noch konnte, würde sie weiterkämpfen. Solange ihr Herz immer noch nach Rache schrie, würde sie ihre Gabe einsetzen, die so lange ihre größte Schwäche gewesen war. Sie würde alle Schwierigkeiten ertragen, jedes Risiko eingehen. Selbst ihre unsterbliche Seele würde sie verkaufen, wenn es sein musste. Was auch immer nötig war, um Gerechtigkeit zu erfahren.

3

Tegan wischte seine blutverschmierte Klinge an der Jacke des toten Rogue ab und beobachtete müßig, wie sich die letzte Leiche in der Gasse in kürzester Zeit auflöste. Diese postmortale Aufräumarbeit hatte Tegan seinen Titanwaffen zu verdanken.

Das Metall wirkte sich auf die verseuchte Zellstruktur von Stammesvampiren, die zu Rogues mutiert waren, wie giftige Säure aus. Die drei Leichen zersetzten sich im Schnee, von Fleisch, Knochen und Kleidern blieben auf dem makellosen Weiß nur dunkle Ascheflecken übrig.

Tegan stieß einen Fluch aus, seine Sinne vibrierten immer noch von der Hitze des Kampfes. Seine kampfgeschärften Augen fielen auf das Messer, das Elise bei dem Rogueangriff verloren hatte. Tegan ging hinüber, um die Waffe zu holen.

„Lieber Himmel“, murmelte er, als er die Klinge vom Schnee aufhob. Das war kein mickriger Dolch, den eine Frau zu ihrem Schutz mit sich herumtragen mochte, sondern eine professionelle Waffe. Über fünfzehn Zentimeter lang, mit eingeschliffenen Zacken am oberen Ende der Spitze, und wenn er sich nicht täuschte, war das Metall kein einfacher Karbidstahl, sondern roguefressendes Titan.

Was wieder die Frage aufkommen ließ: Was zum Teufel hatte eine Frau aus den Dunklen Häfen allein, blutbespritzt und mit professionellen Waffen ausgerüstet auf der Straße zu suchen?

Tegan hob den Kopf und witterte, suchte ihren Duft. Er brauchte nicht lange, um ihn zu finden. Seine Sinne waren von der akuten Genauigkeit eines Raubtiers, und der Kampf schärfte sie noch mehr, ließ sie aufleuchten wie Laserstrahlen. Er sog ihren Duft von Heidekraut und Rosen in seine Lungen und ließ sich von ihm tiefer in die Stadt führen.

Die Duftspur verflüchtigte sich bei einer heruntergekommenen Mietskaserne in einem der desolateren Viertel der Stadt, wo die Wohnungen billig waren. Kein Ort, an dem man erwarten konnte, eine Frau aus guter Familie wie Elise zu finden, die in einem Dunklen Hafen aufgewachsen war. Aber ohne jeden Zweifel war sie hier in diesem graffitiüberzogenen Schandfleck aus Ziegeln und Waschbeton, da war er sich ganz sicher.

Er schlich die Treppe hinauf und runzelte die Stirn beim Anblick der schwachen Haustür mit dem aufgebrochenen Schloss.

In der Vorhalle scharrten seine Stiefel auf abgetretener, fleckenübersäter Auslegeware, die nach Urin, Dreck und jahrzehntelanger Vernachlässigung stank. Linker Hand führte eine ausgetretene Holztreppe hinauf, aber Elises Duft kam von der Tür am Ende des Korridors im Erdgeschoss.

Tegan ging auf die Wohnungstür zu. Das Wummern von Musik vibrierte in Boden und Wänden, auch einen Fernseher konnte er hören. Es war ein ohrenbetäubendes Bombardement von Hintergrundlärm, der lauter zu werden schien, je mehr er sich Elises Wohnung näherte. Er klopfte an die Tür und wartete.

Nichts geschah.

Wieder klopfte er, schlug hart mit den Knöcheln gegen das schartige Metall. Nichts. Vermutlich konnte sie bei dem Krach in ihrer Wohnung auch gar nichts hören.

Vielleicht sollte er gar nicht hier sein, sich nicht in die Angelegenheiten dieser Frau verwickeln lassen, was auch immer es war, das sie an diesen üblen Ort gebracht hatte. Tegan wusste, dass es ihr seit dem Verschwinden und dem Tod ihres Sohnes ausgesprochen dreckig gegangen war. Camden war von Elises eigenem Schwager Sterling Chase getötet worden, als der Junge in voll ausgebrochenem Blutrausch vor dem Dunklen Hafen aufgetaucht war. Soweit Tegan das mitbekommen hatte, war Camden eben dabei gewesen, Elise anzugreifen, als Chase ihn mit ein paar Titangeschossen niedermähte - direkt vor ihren Augen.

Nur Gott allein konnte wissen, was es in der Frau ausgelöst hatte, den Tod ihres Sohnes mit ansehen zu müssen.

Aber das ging ihn nichts an.

Verdammt, es war nicht sein Problem. Also, warum stand er hier in dieser stinkenden Mietskaserne mit seinem Schwanz in der Hand, und wartete darauf, dass sie kam und ihn reinließ?

Tegan besah sich die zahlreichen Schlösser an der Wohnungstür. Zumindest die funktionierten offenbar, und sie hatte auch die Geistesgegenwart besessen, sie von innen abzuschließen. Aber für einen Stammesvampir von Tegans Macht und Abstammung dauerte es nur zwei Sekunden, sie mit bloßer Willenskraft zu öffnen.

Er schlüpfte in die Wohnung und schloss die Tür wieder hinter sich. Von der Dezibelstärke in der kleinen Einzimmerwohnung platzte ihm fast der Kopf. Stirnrunzelnd sah er sich um, nahm die seltsame Einrichtung in sich auf. Die einzige Möblierung bestand aus einem Futon und einem Bücherregal, in dem eine hochwertige Stereoanlage und ein kleiner Flachbildschirmfernseher standen - beide waren eingeschaltet und plärrten in voller Lautstärke.