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„Ah. Entschuldige, es geht mich ja auch gar nichts an. Vergib mir, solche Andeutungen zu machen“, sagte Reichen. Offensichtlich hatte er den Hinweis in Tegans abgehacktem Ton verstanden, dass dieses Thema nicht zur Diskussion stand.

Tegan stand auf. „Dann bin ich mal weg.“

Plötzlich kribbelte es ihn vom Bedürfnis, draußen unterwegs zu sein, weit weg von der sexgeschwängerten Atmosphäre des Nachtclubs. Doch er wagte nicht, mit Reichen zum Anwesen zurückzukehren, denn das würde nur dazu führen, dass er sich wieder in räumlicher Nähe von Elise befand.

„Warte nicht auf mich“, knurrte er, dann stapfte er aus dem Club und in die Nacht hinaus.

23

Elise erwachte am nächsten Morgen kurz nach der Morgendämmerung, nach einer unruhigen Nacht, in der sie nur wenig Schlaf gefunden hatte. Irgendwann im Lauf der Nacht waren ihre Überlebensinstinkte erwacht und sie hatte erkannt, dass sie nicht länger mit Tegan hierbleiben und hoffen konnte, unbeschadet und mit intaktem Herzen aus diesem Schlamassel hervorzugehen. Sie musste Berlin verlassen und nach Boston zurück. Die wenigen Habseligkeiten, die sie dabeihatte, waren in eine kleine Reisetasche gepackt, die aufbruchsbereit neben der Tür stand. Sie hatte geduscht, sich angezogen und dann telefonisch ein Taxi bestellt, das sie zum Flughafen bringen sollte.

Sie hatte darauf bestanden, Tegan auf dieser Reise zu begleiten, in erster Linie wegen ihres Versprechens gegenüber Camden, und weil sie ihren Teil dazu beitragen wollte, die Geheimnisse aufzudecken, die sich vielleicht in dem alten Buch verbargen, das Marek unbedingt haben wollte. Aber sowohl gegenüber Camden als auch vor sich selbst versagte sie, in jeder Sekunde, die sie mit Gedanken an Tegan verschwendete und an die Hoffnungslosigkeit, sich eine gemeinsame Zukunft mit ihm auszumalen.

Sie hatte getan, weshalb sie nach Berlin gekommen war. Peter Odolf würde befragt werden, und man würde Tegan heute Abend in der Hochsicherheitsanstalt erwarten, mit oder ohne Elise als seine persönliche Begleitung. Jetzt konnte sie ihre Zeit zu Hause, wo die Rogues und deren Anführer immer noch eine unmittelbare, tödliche Bedrohung darstellten, effizienter einsetzen.

Ein Klopfen ertönte, gefolgt von der leisen Stimme einer Frau aus Reichens weiterer Verwandtschaft, die hier im Dunklen Hafen lebte. „Hallo? Ich wollte Sie nicht stören …“

„Keine Sorge, ich bin schon wach. Kommen Sie doch herein.“

Elise, die am Fenster stehen geblieben war, nachdem sie die letzten Minuten damit verbracht hatte, eine Furche in den Teppichboden zu laufen, ging durch den Raum zur Tür, öffnete sie und erwartete zu hören, dass ihr Taxi angekommen war. Die junge Stammesgefährtin, die auf dem Gang wartete, lächelte ihr schüchtern zu und hielt ihr ein schnurloses Telefon entgegen.

„Ein Anruf für Sie“, sagte sie. „Wollen Sie ihn annehmen?“

„Natürlich.“ Die andere Frau entfernte sich den Gang hinunter, und Elise hob das Telefon ans Ohr. „Hallo? Elise Chase am Apparat.“

Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Leitung, dann hörte sie die Stimme von Peter Odolfs Gefährtin. „Irina hier - wir haben uns gestern in der Anstalt getroffen?“

„Ja, natürlich. Ist etwas nicht in Ordnung?“

„Nein, nein, alles in Ordnung. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Sie angerufen habe. Dr. Kuhn hat mir gesagt, wo ich Sie erreichen kann …“

„Aber nein, nicht im Geringsten.“ Elise ging in ihr Gästezimmer zurück und setzte sich auf die Bettkante. „Was kann ich für Sie tun, Lina?“

„Ich habe heute etwas gefunden und frage mich, ob es Ihnen vielleicht weiterhelfen könnte.“

„Was ist es denn?“

„Nun, ich habe ein paar von Peters Sachen eingelagert und dabei einen Schuhkarton mit persönlichen Gegenständen aus dem Besitz seines verstorbenen Bruders gefunden. Die meisten sind ganz banale Dinge … Fotos, Schmuck, Schreibzeug mit Monogramm, so was halt. Aber ganz unten in der Schachtel waren ein paar handgeschriebene Briefe, eingewickelt in eine Stickarbeit. Elise, diese Briefe, die Peters Bruder aufgehoben hat

… er muss Wochen dazu gebraucht haben, sie zu schreiben, aber es steht nur unsinniges Gefasel drin. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es könnten dieselben seltsamen Sachen sein, die Peter angefangen hat zu schreiben, in der Zeit, bevor er zum Rogue wurde.“

„Oh, mein Gott.“

„Meinen Sie, diese Briefe könnten Ihnen nützlich sein?“

„Das würde ich gerne herausfinden.“ Erregung breitete sich in Elise aus, als sie einen Kugelschreiber und Zettel aus ihrer Handtasche kramte. „Wären Sie denn bereit, sie mir zu überlassen?“

„Ja, natürlich. Deshalb habe ich Sie doch angerufen.“ Elise sah ihre Reisetasche an und biss sich auf die Unterlippe. In die Staaten konnte sie jederzeit zurück. Diese vielversprechende neue Information war jetzt wichtiger. „Ich kann mit dem Taxi in ein paar Minuten bei Ihnen sein, Irina. Geben Sie mir Ihre Adresse, und ich komme, so schnell ich kann.“

Ein cremefarbener Mercedes wartete im Leerlauf am Ende der eingezäunten Auffahrt, die bereits seit dem Morgengrauen überwacht wurde. Von seinem Beobachtungsposten in einigen hundert Metern Entfernung, wo er verborgen im dichten Grün des angrenzenden Waldes saß und durch einen hochauflösenden Feldstecher spähte, sah der Lakai, wie eine schlanke Blondine aus dem Haus und auf das wartende Taxi zueilte.

Die Schlampe sah genauso aus wie die auf der Videoaufnahme, die ihm der Meister per E-Mail geschickt hatte. Um sicherzugehen, zog er den Ausdruck aus der Jackentasche und warf noch einen Blick darauf. Ja, das war sie wirklich.

Der Lakai lächelte, als die Frau ins Taxi stieg.

„Showtime“, murmelte er und ließ den Feldstecher sinken.

Er baumelte ihm an einem Riemen vom Nacken, als er jetzt den Baum hinunterkletterte, in dem er sich versteckt hatte.

Sein Auto hatte er auf einem schmalen Privatweg in der Nähe abgestellt. Er lief hinüber, sprang hinein, drehte den Zündschlüssel und nahm die Verfolgung seiner Beute auf.

Irina Odolf lebte in einem kleinen, ordentlichen Reihenhaus an einer baumbestandenen Straße in einer Wohngegend am westlichen Stadtrand. Es überraschte Elise, dass die junge Frau beschlossen hatte, sich außerhalb ihres Dunklen Hafens anzusiedeln, nachdem sie ihren Gefährten an die Blutgier verloren hatte. Aber schockieren konnte das Elise nicht, sie hätte in Irinas Situation mit Sicherheit dasselbe getan.

„Dort hat mich einfach viel zu viel an ihn erinnert, an das, was ich verloren habe, nachdem er eingeliefert wurde“, erklärte Irina, als sie und Elise sich im sonnendurchfluteten Esszimmer zum Kaffee setzten. Glastüren mit vertikalen Sonnenblenden gingen auf den schneebedeckten Garten hinaus, der sich an der Hinterseite mehrerer Häuser entlangzog. „Peter und ich hatten viele Freunde in unserem Dunklen Hafen, aber es war zu schwer für mich, dort ohne ihn leben zu müssen. Ich schätze, falls er entlassen wird - wenn er entlassen wird“, verbesserte sie sich und strich den Spitzensaum der Tischdecke glatt, „wenn er nach Hause kommt, dann werden wir dorthin zurückkehren und einen neuen Anfang machen.“

„Ich hoffe, dieser Tag kommt schon bald für euch beide, Irina.“

Die Stammesgefährtin sah mit einem tränenfeuchten Lächeln zu ihr auf. „Das hoffe ich auch.“

Elise nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Sie wurde sich vage bewusst, dass in ihren Schläfen allmählich ein langsames, rhythmisches Klopfen begann, schon seit sie in das Taxi gestiegen war, das sie hergebracht hatte. Die Fahrt hatte sie mitten durch die belebten inneren Stadtbezirke geführt, wo der Höllenlärm menschlicher Gedanken durch das Metall und Glas des Wagens auf sie eingeprasselt war. Aber sie hatte sich auf die Weise konzentriert, die Tegan ihr gezeigt hatte, und die schlimmsten Schmerzen waren auf ein erträgliches Niveau gesunken.

So nah an so vielen Menschen zu sein war mit Sicherheit eine Herausforderung für sie. Irinas Wohnviertel bestand aus einer engen Ansammlung von Häusern, vor denen in einem stetigen Strom Autos auf und ab fuhren und so noch mehr zu dem Lärm beisteuerten, der ihren Kopf erfüllte.