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Und unter dem allgegenwärtigen weißen Rauschen, das sie empfing, entdeckte Elise etwas Dunkleres … gerade außerhalb ihrer Reichweite.

„Würden Sie sich gerne die Briefe ansehen?“

Irinas Stimme brachte Elise schlagartig wieder zu sich. „Aber ja, natürlich.“

Sie folgte der jungen Frau aus dem Esszimmer in ein gemütliches kleines Arbeitszimmer am Ende der Diele. Der Schreibtisch eines Mannes stand einer einladenden Lesenische gegenüber, die maskulinen Möbel makellos poliert und aufgeräumt, so als könnte ihr Eigentümer jederzeit zurückkehren.

Irina winkte Elise zum Schreibtisch, auf dem neben einem offenen Schuhkarton eine alte, glatt gestrichene Stickerei lag, und darauf ruhte ein Stapel gefalteter Papiere. „Hier sind sie.“

„Darf ich?“, fragte Elise und streckte die Hand aus, um das Briefbündel an sich zu nehmen.

Als Irina nickte, entfaltete sie den obersten und sah ihn sich an. Er war mit einer hastigen, extrem unregelmäßigen Schrift bedeckt. Die Worte, vermutlich Latein, waren kaum zu entziffern, und offenbar hatte der Wahnsinn die Feder geführt. Elise blätterte durch die anderen Briefe, sie alle sahen ähnlich aus.

„Denken Sie, das bedeutet irgendetwas?“

Elise schüttelte den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher. Aber ich würde die Briefe gerne jemandem zeigen. Macht es Ihnen wirklich nichts aus, wenn ich sie mitnehme?“

„Tun Sie, was Sie möchten. Ich habe keine Verwendung dafür.“

„Ich danke Ihnen.“

Elise warf einen Blick auf die Stickerei, die auf dem Tisch ausgebreitet war. Es war eine unglaublich schöne Arbeit, und offensichtlich eine sehr alte. Sie konnte nicht widerstehen, mit dem Finger die feinen Nadelstiche nachzufahren, die eine mittelalterliche Gartenszene mit Pflanzen- und Blumenmustern darstellten. „Das ist sehr hübsch. Unglaublich, wie die Details herausgearbeitet sind - als hätte man mit der Nadel gemalt.“

„Ja, schön, nicht?“ Irina lächelte. „Und wer immer die Stickerin war - sie hatte einen interessanten Sinn für Humor.“

„Wie das?“

„Es ist mir aufgefallen, als das Deckchen um die Briefe gewickelt war. Ich zeige es Ihnen.“

Sie faltete den quadratischen Stoff diagonal und schlug eine Ecke um, sodass die Muster in der linken unteren und der rechten oberen Ecke sich berührten. Wo sie zusammenstießen, enthüllte die zarte Stickerei das verborgene Muster einer Träne, die über der Sichel des zunehmenden Mondes schwebte.

Elise lachte, entzückt über so viel Kunstfertigkeit.

„Eine Stammesgefährtin hat das gestickt?“

„Offenbar.“ Vorsichtig strich Irina das Deckchen wieder glatt. „Das muss aus dem Mittelalter sein, was meinen Sie?“

Elise konnte nicht antworten, obwohl sie eine Vermutung hatte. Denn in diesem Augenblick schnitt ihr ein weiß glühender Schmerz in den Kopf. Es war reine, drohende Gefahr, etwas tödlich Böses … und plötzlich war es sehr nahe.

Im Haus.

„Irina“, flüsterte sie. „Es ist jemand hier.“

„Was? Wie meinen Sie das, jemand ist im …“

Sie hob die Hand, um die junge Frau zum Schweigen zu bringen, und kämpfte sich durch den mentalen Angriff, als die gewalttätigen Gedanken des Eindringlings in ihren Kopf schwappten.

Es war ein Lakai, mit dem Auftrag zu töten.

„Wir müssen sofort hier raus.“

„Hier raus? Aber ich …“

„Sie müssen mir vertrauen. Er wird uns beide töten, wenn er uns findet.“

Irinas Augen wurden wild vor Angst. Sie schüttelte den Kopf.

„Von hier hinten geht es nicht nach draußen. Höchstens durchs Fenster …“

„Ja. Schnell! Öffnen Sie es und springen Sie raus. Ich bin gleich hinter Ihnen.“

Leise schloss Elise die Zimmertür und schob den schweren Ledersessel davor, während Irina sich daran machte, das Erdgeschossfenster zu öffnen. Der Lakai war völlig geräuschlos, als er weiter in das Reihenhaus vordrang und nach seiner Beute suchte, aber die Blutrünstigkeit seiner Gedanken verrieten ihn lauter als jede kreischende Alarmanlage.

Er war von seinem Meister ausgeschickt worden, um sie zu töten, aber er hatte vor, die Sache in die Länge zu ziehen. Er wollte sie bluten lassen. Zum Schreien bringen. Das war es, was er an seiner Arbeit am meisten schätzte.

Und er sabberte fast vor Erregung beim Gedanken, dass er seine Perversionen gleich mit zwei Frauen ausleben konnte, statt nur mit der einen.

Oh Gott, dachte Elise, Abscheu stieg ihr die Kehle hoch.

Sie konzentrierte sich auf die Macht von Tegans Blut, das in ihr floss, und auf ihre eigene Entschlossenheit, als sie hektisch daran arbeitete, sich zu sammeln, trotz der entsetzlichen Gewissheit, was da in der Diele auf sie zukam.

„Der Riegel klemmt“, keuchte Irina, ihre Bewegungen fahrig vor Panik. „Es geht nicht auf!“

Dieser leise, ängstliche Aufschrei zog den Lakaien an wie eine Signalrakete. Jetzt hallten schwere Schritte auf das Ende der Diele zu. Elise griff sich ein dickes Buch vom Regal, rannte zu Irina und knallte den schweren Einband gegen den Fensterrahmen, um das klemmende Schloss zu lockern.

„Das hätten wir“, sagte Elise, als sich der Mechanismus schließlich löste. Sie ließ das Buch fallen und stieß das Fenster auf. „Raus mit Ihnen, Irina, sofort!“

Sie spürte, wie der Lakai die Zimmertür entdeckte, hinter der sie sich verbarrikadiert hatten. Seine Gedanken waren bösartig, schwarz und drohend. Sie hörte sein kehliges Aufbrüllen, und dann warf er sich gegen die Tür. Die Türangeln quietschten von der Wucht seines Ansturms, der Türrahmen splitterte, als er sich erneut mit der Kraft eines Rammbocks dagegen warf, wieder und wieder.

„Elise!“, schrie Irina. „Oh mein Gott, was ist das?“

Sie antwortete nicht. Ihr blieb keine Zeit. Elise machte einen Hechtsprung nach den Briefen, aber als sie mit ihnen herumwirbelte und auf das Fenster zurannte, ihrem einzigen Fluchtweg, hatte der Lakai die Tür bereits aufgebrochen und weit genug geöffnet, um sich hereinzuzwängen. Er schleuderte den hinderlichen Sessel aus dem Weg und sprang sie an, ein fürchterliches Jagdmesser in der Faust haltend. Er knurrte, und als er dabei das Gesicht verzog, konnte man eine böse Narbe sehen, die sich von der Stirn hinunter bis auf seine rechte Wange zog.

Das trübe Auge, das im Verlauf der Narbe lag, glitzerte drohend und bösartig.

„Nicht so hastig, meine Damen. Wir werden jetzt ein bisschen Spaß haben.“

Harte Finger schlossen sich um Elises Hals, bevor sie dem Griff des Lakaien ausweichen konnte. Er stieß sie auf den Schreibtisch und beugte sich über sie. Schlug ihr mit dem riesigen Handrücken so hart ins Gesicht, dass ihr die Welt vor den Augen verschwamm und die ganze Seite ihres Gesichtes vor Schmerz dröhnte. Mit einem kraftvollen Hieb rammte er die Spitze des Jagdmessers neben ihrem Kopf ins Holz, wobei er sie absichtlich nur um einen knappen Zentimeter verfehlte.

Sein Grinsen war voll sadistischer Belustigung, als sich seine Finger fester um ihren Hals schlossen. „Spiel mit wie ein gutes Mädchen, vielleicht lass ich dich dann ja laufen“, log er.

Elise trat um sich und wand sich, aber sein Griff war unnachgiebig. Mit ihrer freien Hand tastete sie herum, nach irgendetwas, das sie als Waffe benutzen konnte. Der Schuhkarton fiel um und sein Inhalt verstreute sich auf dem Tisch, ein Durcheinander von Manschettenknöpfen, Fotos … und einem Brieföffner mit Perlmuttgriff. Elise versuchte, diesen Fund zu fassen zu bekommen, ohne dass ihr Angreifer es merkte.

„Lass sie los!“, schrie Irina.

„Stehen bleiben“ knurrte der Lakai und warf ihr einen drohenden Blick zu. „Hörst du, Schlampe? Du bleibst genau da, wo du bist, oder deine Freundin hier kriegt Stahl zu fressen.“

Elise schloss die Augen, während Irina schluchzend und vor Entsetzen wie gelähmt am Fenster stand. Aber in diesem Augenblick war der Lakai abgelenkt, und ihre Finger schlossen sich um den Griff des Brieföffners. Sie wusste, dass er gegen das Messer ihres Angreifers nur wenig ausrichten konnte, aber es war besser als gar nichts.