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In der Sekunde, als sie ihr endlich fest in der Hand lag, riss Elise die behelfsmäßige Waffe in einem weiten Bogen nach oben und traf den Lakaien seitlich am Hals.

Mit einem Aufheulen taumelte er zurück, die Finger auf die tiefe Stichwunde gepresst. Elise hatte gar nicht mitbekommen, dass er nach seinem eigenen Messer gegriffen hatte, bis er damit in ihre Richtung hackte. Sie rollte sich zur Seite und entkam seinem ungelenken, wütenden Hieb nur um Haaresbreite.

Der Lakai kam ins Stolpern, presste weiter die Hand an den Hals und sah mit benommener Verblüffung, wie sich die Vorderseite seines Hemdes von seinem Blut zu röten begann.

„Du verdammtes Miststück!“

Wieder warf er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie und riss sie zu Boden. Elise schlug um sich, versuchte, sich unter ihm hervorzuwinden, aber er war ein großer Mann, und jetzt tobte er vor Wut. Es gelang ihr, sich zwischen Arme und Rippen des Lakaien eingeklemmt auf den Rücken zu drehen, den Brieföffner immer noch fest in der Hand.

Sie sah, wie sein Messer auf ihr Gesicht zukam.

„Nein“, keuchte sie; ihr wurde schlecht von seinem Gewicht und dem säuerlichen Gestank seines Blutes. „Verdammt, nein!“

Mit einem blinden Stoß rammte sie dem Lakaien den Brieföffner zwischen die Rippen, schlug ihm wieder eine tiefe Wunde, die ihn vor Schmerz zum Aufheulen brachte. Er fuhr zurück und keuchte, sein Atem ging pfeifend, und jetzt hatte Elise die Chance, auf Abstand von ihm zu gehen.

„Oh Gott“, keuchte Irina und starrte in hilflosem Entsetzen umher. „Was ist hier los? Wer ist dieser Mann? Was will er von uns?“

„Irina, raus mit Ihnen!“, schrie Elise, packte das Briefbündel und stieß die andere Frau auf das offene Fenster zu.

Beide kletterten hastig hinaus und landeten auf dem gefrorenen Rasenstreifen. Elise sah, wie der Lakai drinnen auf dem Boden saß, blass vor Schock. Der würde so schnell nirgends hingehen. Aber sie wagte nicht, sich auch nur eine Sekunde lang zu entspannen.

„Wir müssen weg hier, Irina. Haben Sie ein Auto?“

Die Frau sagte nichts, ihr Gesicht so blass wie die Schneeflecken im Hof. Elise packte sie an den Schultern und sah ihr in die verstörten Augen.

„Haben Sie ein Auto, Irina? Können Sie fahren?“

Jetzt kam sie wieder zu sich, der Glanz kehrte in ihre Augen zurück. „Was? Oh … ja … mein Auto steht da drüben. Neben der Einfahrt.“

„Dann kommen Sie. Wir müssen hier schleunigst weg.“

24

Unruhe im Eingangsbereich des Dunklen Hafens weckte Tegan in seinem Gästezimmer aus einem leichten Schlaf. Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Er hörte Elises Stimme - ihr sonst so ruhiger Tonfall klang auf einmal viel höher - und sprang sofort auf die nackten Füße, all seine Sinne in höchste Alarmbereitschaft versetzt.

Nackt, außer seiner Jeans, die er im Gehen anzog, bevor er sich nach unten in die Halle aufmachte, registrierte er die gedämpften Geräusche einer Frau, die weinte. Nicht Elise, Gott sei Dank, aber auch sie war da unten, redete schnell und war ganz offensichtlich beunruhigt.

Tegan trat ans Treppengeländer und sah zum offenen Eingangsbereich des Herrenhauses hinunter. Was er sah, ließ ihn auf der Stelle erstarren.

Elise, die gerade von draußen hereingekommen zu sein schien, war blutüberströmt.

Das gibt’s doch nicht.

Er verlagerte sein Gewicht nach hinten, um nicht zu fallen, und sein Magen fiel wie ein Stein nach unten, bis er irgendwo in seiner Kniegegend hängen blieb. Elise war in Scharlachrot getaucht, die Vorderseite ihrer Kleider blutgetränkt, als hätte ihr jemand die Halsschlagader aufgerissen.

Aber es war nicht ihr Blut, erkannte er, als der metallische Geruch von unten hinaufdriftete und ihm in die Nase stieg. Es war das Blut von jemand anderem - eines Menschen.

Die Erleichterung, die ihn in diesem Augenblick durchströmte, war grenzenlos.

Bis eine verzweifelte Wut ihn packte.

Er legte die Fäuste auf das Treppengeländer, schwang die Füße hinüber und ließ sich mit einem abgehackten Fluch in die Vorhalle hinunterfallen. Elise beachtete ihn kaum, als er auf sie zustapfte, sein Körper zitterte vor Wut. Aber all ihre Konzentration war bei der völlig verstörten Irina Odolf, die auf einer gepolsterten Sitzbank neben der Eingangstür zusammengesackt war und unzusammenhängende Laute von sich gab.

Reichen kam gerade mit einem Glas Wasser aus der Küche angelaufen und reichte es Elise.

„Danke, Andreas.“ Sie drehte sich um und hielt es der schluchzenden Stammesgefährtin hin. „Irina. Trinken Sie etwas davon, wenn Sie können. Dann werden Sie sich besser fühlen.“

Soweit Tegan sehen konnte, fehlte der Frau nichts, außer dass sie unter Schock stand. Elise dagegen sah aus, als hätte sie direkt an vorderster Front gestanden. Eine dunkle Quetschung zog sich ihren Unterkiefer entlang und über die Wange hinauf.

„Was zur Hölle ist passiert? Und was hast du außerhalb des Dunklen Hafens gemacht?“

„Trinken Sie“, redete Elise ihrer Schutzbefohlenen zu und ignorierte Tegan völlig. „Andreas, haben Sie einen ruhigen Raum, wo Irina sich eine Weile hinlegen kann?“

„Ja, natürlich“, erwiderte Reichen. „Im ersten Stock gibt es einen Salon.“

„Ich danke Ihnen. Das wird völlig ausreichen.“

Tegan sah zu, wie leicht es Elise fiel, mit ihrer sanften Art die Kontrolle der Situation an sich zu nehmen. Er musste die Kraft bewundern, die sie in dieser Krise aufbrachte, aber verdammt noch mal, er rauchte vor Wut. „Kannst du mir mal erklären, wie es dazu kommt, dass du hier verletzt und blutüberströmt rumstehst?“

„Heute früh bin ich zu Irina gefahren“, erwiderte Elise und machte sich noch immer nicht die Mühe, seinem wütenden Blick zu begegnen. „Ein Lakai muss mir gefolgt sein …“

„Herr im Himmel!“

„Er brach in Irinas Reihenhaus ein und hat uns angegriffen.

Ich habe ihn unschädlich gemacht.“

„Du hast ihn unschädlich gemacht“, sagte Tegan dunkel.

„Was ist passiert? Hast du mit dem Hundesohn gekämpft? Hast du ihn umgebracht?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben nicht abgewartet, um das herauszufinden.“

Sie nahm Irina das Wasserglas aus der Hand, die sowieso kaum etwas trank, und stellte es auf dem Boden ab. „Können Sie aufstehen?“, fragte sie die junge Frau, ihre Stimme liebevoll und besorgt. Als die Stammesgefährtin nickte, packte Elise sie stützend unter dem Arm und half ihr auf die Füße. „Wir gehen zusammen in einen anderen Raum hinauf, wo Sie sich erholen können, in Ordnung?“

„Erlauben Sie.“ Reichen glitt geschmeidig zwischen sie und nahm Irinas schlaffes Gewicht auf sich. Vorsichtig führte er sie auf eine geöffnete Flügeltür zu, die von der Eingangshalle abging.

Als sich Elise anschickte, ihnen zu folgen, streckte Tegan die Hand aus und packte ihr Handgelenk. „Elise. Warte mal.“

Da sie keine Wahl hatte, blieb sie stehen. Dann stieß sie einen langsamen Seufzer aus und wandte sich um, um ihn anzusehen. „Deine Missbilligung kann ich jetzt gar nicht gebrauchen, Tegan. Ich bin völlig am Ende, und ich muss aus diesen schrecklichen Kleidern raus. Wenn du also vorhast, mir eine Standpauke zu halten, wirst du damit noch etwas warten müssen.“

Er zog sie an sich, und sie wurde ganz still, als sich seine Arme in einer wilden Umarmung um sie schlossen.

Er konnte sie nicht loslassen. Er konnte nichts sagen. Seine Brust zog sich zusammen in einem Gefühl, das er sich nicht eingestehen wollte, das sich aber auch nicht abstreiten ließ. Es schnürte ihm die Luft ab, schloss sich um sein Herz wie eine Schraubzwinge.

Verdammt!