„Du gibst dir die Schuld daran, was mit deiner Gefährtin geschehen ist, nicht?“
Eine ganze Minute lang sah er sie schweigend an, und sie dachte schon, dass er es mit seiner üblichen Distanziertheit abstreiten würde. Aber dann stieß er einen Fluch aus und fuhr sich mit den Fingern durchs nasse Haar. „Ich konnte sie nicht retten. Ich war für ihre Sicherheit verantwortlich, aber ich habe versagt.“
Elises Herz setzte einen Schlag aus. „Du musst sie sehr geliebt haben.“
„Sorcha war ein liebes Mädchen, die unschuldigste Person, die ich je kennengelernt habe. Sie hat den Tod, den sie erleiden musste, nicht verdient.“
Elise schlang sich das Handtuch um, während sich Tegan auf die Marmorbank setzte, die sich auf ganzer Länge um die Wand der Duschkabine zog. Seine Beine waren gespreizt, die Ellenbogen ruhten auf seinen Knien.
„Was ist passiert, Tegan?“
„Etwa zwei Wochen, nachdem sie entführt wurde, schickten ihre Entführer sie mir nach Hause zurück. Sie war vergewaltigt und gefoltert worden. Und als wäre das nicht schon grausam genug gewesen, hatte er auch von ihr getrunken. Sie kam als Lakaiin des Rogue zu mir zurück, der sie so grausam gequält hatte.“
„Oh Gott, Tegan.“
„Sie so zurückzuschicken war schlimmer, als sie zu töten, aber ich schätze, diese Aufgabe hatten sie mir zugedacht. Ich konnte es nicht. In meinem Herzen wusste ich, dass sie schon fort war, aber ich konnte ihr Leben nicht beenden.“
„Natürlich nicht“, versicherte sie ihm sanft. Seine Geschichte brach ihr fast das Herz.
Elise schloss die Augen zu einem leise geflüsterten Gebet und setzte sich dann zu Tegan auf die Bank. Es war ihr egal, ob er ihr Mitgefühl zurückwies; jetzt musste sie ihm nahe sein. Er musste wissen, dass er nicht allein war.
Als sie ihre Hand auf seine nackte Schulter legte, zuckte er nicht zurück. Er drehte den Kopf zur Seite und begegnete ihrem mitfühlenden Blick. „Ich versuchte, sie zu heilen. Ich dachte, wenn ich ihr nur genug Blut nehme und ihr dafür meines gebe - wenn ich sie aus meiner Vene nähren und das Gift aus ihren Venen saugen kann -, dann kommt sie vielleicht durch ein Wunder wieder zurück. Also habe ich mich genährt, um sie zu nähren. Ich kam in einen Blutrausch, der Wochen dauerte. Ich hatte keine Selbstbeherrschung mehr. Ich war so von Schuld zerfressen und dem Bedürfnis, Sorcha zu heilen, dass mir gar nicht auffiel, wie schnell ich auf die Blutgier zudriftete.“
„Aber du hast doch die Grenze nicht überschritten, oder? Ich meine, wenn es so weit gekommen wäre, dann wärst du jetzt nicht hier.“
Er lachte auf, ein scharfes, bitteres Geräusch. „Oh doch, ich habe die Grenze überschritten. Ich bin gefallen, so wie es allen Süchtigen geht. Die Blutgier hätte mich zum Rogue gemacht, wenn Lucan nicht gewesen wäre. Er ist eingeschritten und hat mich in eine Kerkerzelle gesteckt, um abzuwarten, bis die Krankheit gebrochen war. Es hat Monate gedauert, und ich bin fast verhungert, man hat mir nur so viel Nahrung gegeben, wie unbedingt nötig war, um mich am Leben zu halten. Die meisten dieser Tage habe ich damit verbracht, um meinen Tod zu beten.“
„Aber du hast überlebt.“
„Ja.“
„Und Sorcha?“
Er schüttelte den Kopf. „Lucan hat für sie getan, wozu ich nicht Manns genug war. Er hat sie von ihrem Leiden befreit.“
Elises Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen, als sie verstand. „Er hat sie getötet?“
„Es war ein Akt der Gnade“, antwortete Tegan angespannt.
„Und trotzdem habe ich ihn die letzten fünfhundert Jahre dafür gehasst. Letztendlich hat Lucan ihr viel mehr Mitgefühl erwiesen, als ich es konnte. Ich hätte sie am Leben erhalten, nur um mir die Schuldgefühle zu ersparen, sie getötet zu haben.“
Elise ließ ihre Handfläche über Tegans glatten Rücken gleiten, bewegt von seinem Geständnis und der Liebe, die ihm vor so langer Zeit genommen worden war. Sie hatte ihn für kalt und gefühllos gehalten, aber das war nur, weil er seine Gefühle verbarg. Seine Wunden reichten tiefer, als sie je gedacht hätte.
„Es tut mir so leid, du hast so viel durchmachen müssen, Tegan.
Ich verstehe jetzt. Ich verstehe … auf einmal so viel.“
„Ach ja?“
Der düstere Blick, mit dem er sie ansah, war so intensiv, dass er ihr bis tief in die Seele zu dringen schien.
„Als ich dich vorhin unten sah, blutüberströmt …“ Abrupt hielt er inne, als wäre er unfähig, die Worte zu formen, die er sagen wollte. „Ach, verdammt … diese Art von Angst und Schmerz wollte ich nie wieder fühlen, verstehst du? Ich wollte nie wieder jemanden so nahe an mich heranlassen.“
Elise sah ihn schweigend an, sie hörte seine Worte, war aber unsicher, wie sie sie verstehen sollte. Meinte er das etwa wirklich ernst, empfand er etwas für sie?
Seine Finger strichen federleicht über das dumpfe Pochen in ihrer gequetschten Wange. „Doch, es ist so“, sagte er, eine ruhige Antwort auf ihre Frage, die er in seiner Berührung gelesen hatte.
Er legte den Arm um sie und zog sie an sich, hielt sie einfach nur im Schutz seines Armes, sein Daumen streichelte sanft ihren Oberarm. „Ich glaube, mit dir wäre es sehr leicht, zu viel zu empfinden, Elise. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Risiko eingehen kann.“
„Kannst du nicht … oder willst du nicht?“
„Da gibt es keinen Unterschied. Das sind nur Worte.“
Elise lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie wollte das jetzt nicht hören. Wollte ihn nicht gehen lassen. „Also, was bedeutet das für uns? Wie soll es mit uns weitergehen, Tegan?“
Er sagte nichts, hielt sie nur weiter fest und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.
25
Der Rest des Tages verging in einem Wirbel von Besprechungen und dem Sammeln von Informationen. Nach Sonnenuntergang hatte Reichen ein paar seiner Leute zu Irina Odolfs Haus hinausgeschickt. Sie hatten berichtet, dass der Lakai fort war, offenbar hatte er es aus eigener Kraft geschafft, obwohl Elise ihn erheblich geschwächt haben musste, bei der Blutmenge, die er dort hinterlassen hatte.
Bewaffnet mit der Personenbeschreibung, die Elise ihm gegeben hatte, war Reichen schon in der Stadt auf der Suche nach potenziellen Hinweisen. Tegan hoffte, dass sie den Lakaienbastard bald lokalisieren würden, denn es juckte ihn in den Fingern, zu Ende zu bringen, was Elise begonnen hatte.
Was sie anging … So gerne Tegan sie einfach weiter im Arm gehalten hätte - oder noch besser, nackt in seinem Bett -, wusste er, dass es ein Pfad war, der ihn nur tiefer in endlose Verstrickungen führen würde. Stattdessen hatte er seine Aufmerksamkeit auf das Tagebuch gerichtet, das sie abgefangen hatten, und das Bündel Briefe, das Elise aus den Habseligkeiten von Peter Odolf gerettet hatte.
Beide enthielten mehrfach dieselben, eigentümlichen Sätze:
Burg und Ackerkrume sollen sich unter der Mondsichel zusammenfinden
auf die östlichen Grenzlande richte den, Blick Am Kreuz liegt Wahrheit
Es musste eine Art Rätsel sein, aber was es bedeutete - wenn es denn überhaupt etwas bedeutete -, musste sich erst zeigen.
Peter Odolf schien es auch nicht zu verstehen, obwohl seine Stammesgefährtin gesagt hatte, dass er diese Worte zwanghaft wieder und wieder niedergeschrieben hatte, in der Zeit, bevor er zum Rogue geworden war. Genau wie sein Bruder vor ihm.
Und auch wie derjenige, der einst das alte Tagebuch geführt und Dragos Dermaglyphensymbol auf dessen Seiten gekritzelt hatte.
Jetzt stand Tegan Peter Odolf in dessen Zelle gegenüber und beäugte den gefesselten Rogue mit herzlich wenig Geduld. Er und Elise hatten schon die ganze letzte Stunde in der Anstalt verbracht und waren mit ihrer Befragung keinen Schritt weitergekommen.
Odolfs Medikation war herabgesetzt worden, somit war der Rogue zumindest bei Bewusstsein, aber ansprechbar war er deshalb noch lange nicht. In einen frei stehenden, vertikalen Ganzkörperkäfig aus Drahtgeflecht geschnallt, die muskulösen Arme an den Seiten gefesselt, die Füße in Fußeisen, sah Peter Odolf in jeder Hinsicht wie das gefährliche Ungeheuer aus, das er war.