Tegan streckte die Hand aus und hielt sie am Arm fest, als sie sich aufmachen wollte, den Korridor zu betreten. „Ich nehme dich nicht mit zu Helenes Club, Elise. Ich könnte dich am Dunklen Hafen absetzen …“
„Warum?“ Elise zuckte unbekümmert die Schultern. „Ich habe keine Angst, einen Nachtclub zu besuchen.“
Tegan kamen die drastische Bilder der vorigen Nacht in den Sinn, sie standen in allen grellen Details vor seinem inneren Auge. „Es ist, äh, nicht diese Art von Nachtclub. Es wäre dir unangenehm. Glaub mir.“
Ihre Augen wurden groß, als sie verstand, was er meinte.
„Willst du mir etwa sagen, dass das ein Bordell ist?“
Er antwortete nicht gleich, aber das musste er auch gar nicht, sie begriff sofort. Er sah, wie sie mit einem leichten Stirnrunzeln darüber nachdachte. „Bist du dort gewesen?“
Tegan hob leicht eine Schulter an und fragte sich, warum zum Teufel es sich so schäbig anfühlte, das zuzugeben. „Reichen hat mich gestern Abend dorthin mitgenommen, um Helene zu treffen.“
„Letzte Nacht“, sagte sie, ihre blassvioletten Augen verengten sich, als sie ihn ansah. „Letzte Nacht hast du ein Bordell besucht
… nachdem wir … oh. Okay, ich verstehe.“
„Es ist nicht, wie du denkst, Elise.“
Er verspürte den plötzlichen, absurden Impuls, ihr zu versichern, dass im Club nichts geschehen war, aber Elise schien an Entschuldigungen überhaupt nicht interessiert. Mit brüsken Bewegungen zog sie sich ihren Mantel an und knöpfte ihn zu.
„Ich bin fertig, wir können jetzt gehen, Tegan.“
Er fiel neben ihr in Schritt, als sie den Korridor entlangging.
„Es sollte nicht lange dauern mit Reichen. Sobald ich dort fertig bin, komme ich zurück in den Dunklen Hafen, und dann können wir versuchen, ob wir Odolfs Gefasel von heute Abend irgendeinen Sinn entlocken können.“
Elise warf ihm einen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete. „Wir können auf dem Weg ins Aphrodite darüber reden“, sagte sie. „Ich komme mit.“
Er sah sie an - ihr Blick war unnachgiebig - und stieß ein besiegtes Kichern aus. „Wie du willst. Aber sag mir hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Trotz ihres behüteten Lebens in den Dunklen Häfen hatte Elise sich nie für prüde gehalten. Aber mit Tegan durch den privaten Hintereingang des Club Aphrodite zu gelangen, gab ihr doch eine unerwartete Schnelllektion in Sachen Erotik.
Sie wurden von einem riesigen, muskelbepackten Mann in einem dunklen Maßanzug eingelassen. Er trug ein schnurloses Headset am Ohr, ein kleines Mikrofon bog sich zu seinem Mund hinunter, unter dem ein Ziegenbärtchen prangte. Er sprach hinein, vermutlich teilte er seiner Chefin mit, dass ihre Gäste eingetroffen waren, während er Tegan und Elise durch das Erdgeschoss des Clubs führte.
Dekoriert mit bunten Karnevalsgirlanden, waren Lounge und Bar mit ihren Armaturen und Beschlägen aus poliertem Messing und der erlesenen Möblierung ein visueller Augenschmaus.
Nackte Schönheiten räkelten sich auf Sofas mit Tierfellmuster.
Einige von ihnen widmeten sich in aller Öffentlichkeit einem oder zwei Kunden. Wieder andere gaben eine erotische Darbietung zum Besten, küssten und streichelten einander, während Männer in seidenen Bademänteln oder Saunatüchern ihnen mit verzückten, erhitzten Blicken zusahen.
In einem anderen Kuschelnest in der Nähe der Bar wurde gerade ein Mann von vier Frauen gleichzeitig verwöhnt. Elise schaffte es kaum, nicht mit offenem Mund auf den Wirrwarr von sonnengebräunten Armen und Beinen zu starren. Selbst über den leisen, dröhnenden Rhythmus der Musik hinweg, die über Deckenlautsprecher rieselte, konnte sie das Geräusch hören, wie Haut auf Haut klatschte, und das lustvolle Stöhnen und die heiseren Schreie der Erlösung, die aus praktisch jeder Ecke der Lounge kamen.
Von so vielen Menschen umgeben, kämpfte Elise gegen das dunkle Dröhnen ihrer Gabe an, die zum Leben erwacht war, sobald sie den Club betreten hatten. Zum Glück war das meiste des Ansturms, der sie traf, lustvoller Natur, einiges davon von drastischer Deutlichkeit, aber nicht verstörend genug, um richtigen Schmerz hervorzurufen.
Sie erinnerte sich an Tegans Lektion und griff mit ihren Gedanken nach einer der unbedrohlichsten Stimmen, die ihren Kopf erfüllten. Sie zog sie hervor und benutzte sie, um die anderen zu dämpfen, während sie durch den Club ging.
Als sie wagte, einen Blick auf Tegan zu werfen, bemerkte sie, dass er sie anstarrte. Wenn er etwas von all den öffentlich vollzogenen Paarungen um sie herum bemerkt hatte, schien er nicht im Geringsten davon beeindruckt. Nein, er schien viel mehr daran interessiert, ihre Reaktion zu beobachten. Sein Blick war hart und durchdringend, sein Kiefer so fest zusammengepresst, dass ihm schon fast die Zähne zerspringen mussten.
Von der Intensität seines Blickes wurde ihr innerlich zu warm. Elise blinzelte und sah weg. Aber von ihm wegzusehen bedeutete, mehr von diesem Club zu sehen. Mehr rohe, pulsierende Sexualität, die ihr Tegans Anwesenheit nur umso deutlicher bewusst machte, und die lebhafte Erinnerung daran, wie gut sich ihre Körper zusammen anfühlten.
Ihre Erleichterung hätte unmöglich größer sein können, als ihr Begleiter vor einem Fahrstuhl stehen blieb und sie in eine wartende Kabine führte.
Sie fuhren in den vierten Stock hinauf. Der Lift öffnete sich in eine Suite mit Glaswänden, die offenbar als Büro und auch als Schlafzimmer fungierte. Reichen erhob sich von dem luxuriösen, runden Bett, auf dem er sich in eleganter Haltung ausgestreckt hatte, um sie zu begrüßen. Sein weißes Hemd war aufgeknöpft, seine maßgeschneiderten grauen Hosen brachten seine schlanken Hüften und den glatten, muskulösen Oberkörpper gut zur Geltung. Die Dermaglyphen des Vampirs wirbelten in flügelähnlichen Schnörkeln über seine Brustmuskeln und akzentuierten die maskuline Schönheit ihrer Form.
Er schien es gewohnt, bewundert zu werden, und lächelte nur, als Tegan und Elise in den Raum traten.
„Mir war nicht klar, dass Sie Tegan hierher begleiten würden“, sagte er und nahm galant Elises Hand. „Ich hoffe, Sie sind nicht allzu schockiert.“
„Nicht im Geringsten“, sagte sie und hoffte, dass ihr nicht anzumerken war, wie unbehaglich sie sich fühlte.
Reichen stellte sie der groß gewachsenen Brünetten vor, die sie letzte Nacht mit ihm gesehen hatte. Die junge Frau trug einen elfenbeinweißen Hosenanzug von raffinierter Schlichtheit, den man eher in einem Vorstandszimmer als in einem Bordell vermutet hätte. Heute Abend war ihr dunkles Rabenhaar in einem losen Knoten aufgesteckt, festgehalten von einem Paar glänzender Essstäbchen aus Schildpatt.
Sie war der Inbegriff von Professionalität. Ein eigentümlicher Kontrast zu den Überwachungsvideos auf den Flachbildschirmen, die hinter ihr an der Bürowand angebracht waren.
Während auf den Monitoren die Menschen aus dem Erdgeschoss des Clubs miteinander beschäftigt waren, lächelte die junge Frau nur liebenswürdig, als Reichen und Elise vor ihr stehen blieben.
„Dies ist Helene“, sagte Reichen. „Die Eigentümerin des Clubs und eine gute Freundin, die mein volles Vertrauen genießt.“
„Hallo“, sagte Elise und streckte ihr die Hand hin. „Ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
„Ganz meinerseits“, schnurrte Helene mit ihrem deutschen Akzent. Elises Finger wurden in einem kräftigen und doch femininen Griff gehalten, der das Selbstbewusstsein spiegelte, das in Helenes dunklen Augen blitzte. Dieser selbstbewusste Blick glitt nun in Tegans Richtung, und höflich tat sie so, als kannte sie ihn nicht, eine Geste, die wohl Elise gelten sollte. „Hallo, und willkommen im Club Aphrodite, alle beide.“
„Schön, Sie wiederzusehen, Helene“, sagte Tegan, sein Tonfall schnitt das höfliche Geplänkel ab und machte allem falschen Anschein ein Ende. „Reichen sagt mir, Sie haben Informationen für uns.“