Dass er es genossen hatte, ihr wehzutun, gab Tegan Anlass genug, sich für den Bastard jede Menge Zeit zu nehmen.
„War das Lamm nicht nach Ihrem Geschmack?“
Elise kam wieder zu sich und sah Reichen über den intimen Zweiertisch hinweg an. „Nein, es ist delikat. Alles hier war einfach unglaublich gut, Andreas. Sie hätten das wirklich nicht zu tun brauchen.“
Er winkte mit lässiger Geste ab, aber in seinem Lächeln lag Stolz. „Was für ein Gastgeber wäre ich denn, wenn ich Sie den ganzen Tag ohne etwas zu essen lassen würde? Es erschien mir nur angemessen, Sie in eines der besten Restaurants der Stadt einzuladen.“
Sie saßen einander in einem Restaurant im obersten Stockwerk eines der exklusivsten Hotels von Berlin gegenüber. Nachdem er erfahren hatte, dass Elise schon seit mehreren Stunden nichts mehr zu sich genommen hatte, hatte er nach ihrem Besuch von Helenes Club auf einem Abstecher bestanden.
Er selbst hatte natürlich nichts bestellt. Stammesvampire konnten zubereitete Speisen nur in winzigsten Mengen zu sich nehmen - was sie sich normalerweise für die seltenen Gelegenheiten aufhoben, wenn sie es für nötig befanden, sich als Menschen auszugeben.
Obwohl das Essen und der Wein vor ihr einfach unglaublich waren, hatte auch Elise kaum etwas essen können. So hungrig sie auch war, hatte sie keinen Appetit. Sie konnte nicht ans Essen denken, solange Tegan irgendwo da draußen war und ihre Schlachten für sie kämpfte.
Vor dem Fenster links von ihr glitzerte die nächtliche Stadt in geschäftigem Leben. Sie sah hinaus, ließ den Blick über die wimmelnden Fußgängermassen, den dröhnenden Verkehr und die erleuchtete Schönheit des Brandenburger Tores schweifen.
Keiner der Menschen da draußen hatte auch nur die leiseste Ahnung von dem Krieg, der innerhalb des Stammes tobte. Und nur wenige Bewohner der Dunklen Häfen wussten davon. Diejenigen, die in Positionen waren, um von den Roguekonflikten zu wissen, entschieden sich dafür, sich blind zu stellen, und vertrauten darauf, dass Politik und Vorschriften schon dafür sorgen würden, dass die Dinge ihren rechten Gang nahmen. Jeder machte einfach mit seinem Leben weiter, als wäre nichts geschehen, in einem Zustand bequemer Ignoranz, während sich Tegan und die anderen Ordenskrieger die Hände schmutzig machten und ihr Leben riskierten, damit der brüchige Frieden innerhalb des Stammes und mit der Menschheit, von der er abhängig war, gewahrt blieb.
Sie war eine von ihnen gewesen. Als sie über den Tisch hinweg den gut aussehenden, kultivierten Reichen ansah, wurde sie nur wieder daran erinnert, wie einfach und behütet ihr Leben früher gewesen war. Als die Gefährtin von Quentin Chase hatte sie in einem schützenden Kokon von Wohlstand und Privilegien gelebt. Ein Teil ihres Selbst erkannte, wie leicht es sein würde, zu dieser Lebensform zurückzukehren. So zu tun, als hätten sich die schrecklichen Dinge, die sie in diesen letzten Monaten außerhalb der Dunklen Häfen mitangesehen hatte, nie ereignet, oder als hätte sie die schrecklichen Dinge, zu denen sie sich gezwungen hatte, um Camdens Tod zu rächen, nie getan.
Eine kleine, feige Stimme in ihr fragte sich, ob es nicht schon zu spät war, zu ihrem alten Leben zurückzukehren und zu vergessen, dass sie je einen Krieger namens Tegan getroffen hatte.
Die Antwort kam in ihrem Herzschlag, der sich beschleunigte, der aufgewühlten Unruhe, die in ihr aufflammte, wenn sie nur an ihn dachte.
Ihr Blut würde ihn nie vergessen, wie weit sie auch davonrannte. Und auch ihr Herz würde ihn nie vergessen.
„Vielleicht möchten Sie gerne ein anderes Gericht versuchen?“, fragte Reichen und lehnte sich über den Tisch, um ihre Hand zu berühren. „Ich kann nach dem Kellner rufen, wenn Sie …“
„Nein. Nein, das ist nicht nötig“, versicherte sie ihm und kam sich unhöflich und undankbar vor, seine Freundlichkeit nicht angemessen zu würdigen. Vermutlich hatte Tegan ihre Besorgnis gar nicht nötig. Mit Sicherheit würde er sie nicht wollen. Sie konnte ihre Gefühle für ihn nicht abstellen, aber deshalb musste sie sich auch nicht vollkommen von ihnen beherrschen lassen. „Danke, dass Sie mich hierher begleitet haben, Andreas. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so gut gegessen und getrunken habe. Quentin und ich sind gerne zusammen essen gegangen, aber seit seinem Tod hatte ich keinen Grund mehr, mir die Mühe zu machen.“
Reichen sah sie mit gespieltem Unmut an, als hätte er nie etwas Absurderes gehört. „Es gibt immer einen Grund, die Freuden des Lebens zu genießen, Elise. Ich persönlich glaube nicht an Enthaltsamkeit und Verzicht. In keiner Form und Hinsicht.“
Elise lächelte, sie wusste, dass er jetzt absichtlich seinen Charme spielen ließ. „Ich nehme an, mit dieser Lebensphilosophie müssen Sie eine Menge Herzen gebrochen haben.“
„Nur ein paar“, gab er grinsend zu.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, einen Arm über die Stuhllehne gelegt, sein aristokratisches Profil kam im warmen Schein der flackernden Kerze auf dem Tisch gut zur Geltung.
Mit seinem dunklen Haar, das sich aus seinem Pferdeschwanz löste, dem maßgeschneiderten weißen Hemd, das einen Knopf weiter geöffnet war als angemessen, wirkte Andreas Reichen wie ein zügelloser Monarch, der von seinem Schlossturm auf seine Untertanen hinabblickte.
Aber unter seiner geübten Nonchalance lag eine rastlose Unterströmung, vielleicht eine Spur Langeweile, und in seinen Augen eine zynische Weisheit, die darauf schließen ließ, dass dieser Mann bei all seinem leichten Charme mehr Dunkelheit gesehen hatte, als er sich anmerken ließ.
Elise fragte sich, ob er trotz seiner privilegierten Stellung und seiner offen libertinären Lebensweise nicht auch ein wenig von einem Krieger in sich hatte.
„Was ist mit Helene?“ Elise konnte nicht widerstehen, ihn nach der umwerfenden Frau zu fragen, die keine Stammesgefährtin war und doch offenbar durch ihre Beziehung mit Reichen so viel über das Vampirvolk zu wissen schien. „Kennen Sie
… einander schon lange?“
„Einige Jahre. Helene ist eine Freundin. Sie ist gelegentlich meine Blutwirtin und wir fühlen uns wohl miteinander, aber unser Arrangement ist in erster Linie körperlicher Natur.“
„Sie sind nicht in sie verliebt?“
Er lachte leise in sich hinein. „Helene würde vermutlich sagen, dass ich niemanden mehr liebe als mich selbst. Nicht ganz unbegründet, wie ich fürchte. Ich habe einfach noch nie eine Frau getroffen, die mich in Versuchung führen konnte, mir etwas Dauerhaftes zu wünschen. Aber wer wäre auch verrückt genug, sich auf einen wie mich einzulassen?“, fragte er und warf ihr ein strahlendes Lächeln zu, bei dem allein jede andere sofort herbeigeeilt wäre, um sich freiwillig zu melden.
Elise nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas. „Ich halte Sie für einen sehr gefährlichen Mann, Andreas Reichen. Eine Frau ist gut beraten, in Ihrer Gegenwart auf ihr Herz aufzupassen.“
Er hob eine Augenbraue, was gleichzeitig verwegen und ernst aussah. „Ihnen würde ich nie das Herz brechen wollen, Elise.“
„Ach“, sagte sie und prostete ihm spöttisch mit dem Glas zu.
„Sehen Sie, genau das habe ich eben gemeint.“
Tegan kam mit extrem schlechter Laune zu Reichens Anwesen zurück. Der Lakai, der Elise fast getötet hatte, war tot, und das waren gute Neuigkeiten. Aber ehe er dem Menschen den letzten Atem herausgepresst hatte, hatte er zwei heikle Informationen von ihm erhalten.
Die erste war, dass Marek an etliche seiner Lakaien in und um Berlin den Befehl ausgegeben hatte, Elise zu töten. Was bedeutete, dass Tegan sie schleunigst aus der Stadt herausbekommen musste.
Er war schon dabei, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Gerade hatte er mit Gideon telefoniert, der sich darum kümmern würde, dass der Privatjet des Ordens in einer Stunde aufgetankt und abflugbereit auf dem Flughafen Tegel bereitstand.
Die zweite Sache, die er heute Abend erfahren hatte, war, dass, wie er es auch drehte und wendete, Elise ihm etwas bedeutete. Sie bedeutete ihm etwas, auf eine Art, die er kaum erfassen konnte. Sie war ihm so wichtig, als sei sie sein Fleisch und Blut - noch wichtiger als Mitglieder seiner Familie. Das war ihm wieder einmal klar geworden, als sie nach dem Lakaienangriff blutüberströmt zurückgekommen war. Er respektierte sie, nicht nur ihres Mutes wegen, sondern auch wegen ihrer Stärke. Sie war eine außergewöhnliche Frau, so viel besser, als er je hoffen konnte, es zu verdienen.