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Während Lucan das Entsetzen, das die Alten verbreiteten, zutiefst verabscheute, gab sich Marek diesem Vergnügen recht häufig selber hin. Die Macht, Panik auszulösen und zu töten, ohne dass jemand Vergeltung üben konnte, gab ihm ein erhebendes Gefühl, und er fragte sich oft, warum sich das Vampirvolk seine menschlichen Blutwirte nicht einfach Untertan machte und den Planeten für sich beanspruchte.

Diesen Samen der Unzufriedenheit hatte Marek den Alten schon geraume Zeit verabreicht, als all seine Pläne plötzlich ins Schleudern gerieten.

In einem Anfall von Blutgier nahm sein außerirdischer Erzeuger das Leben seiner und Lucans Mutter. Die Kreatur schlachtete sie förmlich ab, und Lucan, der Gerechtigkeit forderte, nahm sich dafür den Kopf des Vampirs. Mit diesem Mord an einem der Alten erklärte Lucan den anderen, die noch übrig waren, und allen, die ihnen dienten, den Krieg. Lucan gründete den Orden und rekrutierte Marek, Tegan und vier andere Gen-Eins-Vampire, die alle schworen, das Massenmorden zu beenden und eine neue Lebensform für das Vampirvolk zu schaffen.

Solch edle, hochfliegende Absichten.

Selbst jetzt konnte Marek ein hämisches Kichern kaum zurückhalten. Er war nicht das einzige Mitglied des Ordens gewesen, das sich an Lucans Vision einer friedlichen Koexistenz mit der Menschheit gestoßen hatte. Ein anderer Krieger, Dragos, vertraute Marek schließlich an, dass er andere Vorstellungen von der Zukunft des Stammes hatte.

Und was noch faszinierender war, er hatte bereits begonnen, aktiv auf diese Zukunft hinzuarbeiten.

Während der Orden den noch lebenden Alten den Krieg erklärte und sie in einer Schlacht, die Jahre dauerte, einen nach dem anderen zur Strecke brachte, blieb eine dieser todbringenden Kreaturen übrig.

Dragos und sein außerirdischer Erzeuger hatten einen Pakt geschlossen. Statt den Vampir zu töten, hatte Dragos geholfen, ihn zu verstecken.

Erst etliche Zeit später, nachdem Dragos im Kampf eine tödliche Verwundung davongetragen hatte, beschloss er, sein Geheimnis Marek anzuvertrauen. Aber der Bastard hatte ihm nicht alles verraten wollen. Dragos weigerte sich, Marek den genauen Ort der Gruft anzugeben, wo der Alte in einem künstlichen, langen Winterschlaf lag.

Der Zorn, der Marek darüber gepackt hatte, dieses Detail nicht in Erfahrung bringen zu können, war unkontrollierbar gewesen. Er hatte Dragos einen Dolch in den Hals gerammt und den Vampir - und die alles entscheidende Information - mit einem wütenden Hieb ins Grab geschickt.

Dann hatte er die einzige Person verfolgt, die ihm vielleicht noch etwas nützen konnte: Dragos’ Stammesgefährtin Kassia.

Aber die Frau war durchtrieben, und in dem Moment, als ihr Gefährte von Mareks Hand starb, musste sie gespürt haben, dass sie bald schon dasselbe Schicksal ereilen würde.

In der Zeit, die Marek brauchte, um auf Dragos’ Schloss anzukommen, um ihr das Geheimnis zu entreißen, hatte Kassia seine Pläne durchkreuzt, indem sie sich das Leben genommen hatte.

Seither war Marek besessen von der Mission, Dragos’ Geheimnis zu lüften. Dafür hatte er bereitwillig gefoltert und getötet. Seine Ehre hatte er schon vor langer Zeit fortgeworfen, seinen eigenen Tod vorgetäuscht und all seine Verwandten verraten, alles nur um der Chance willen, derjenige zu sein, der den alten Terror auf die Menschheit loslassen und ihn nach seinem Willen lenken würde.

Schließlich, nach einer scheinbar endlosen Zeit der Suche, hatte er kürzlich seinen ersten, wirklich bedeutsamen Hinweis gefunden: den Namen Odolf, einer Stammesfamilie aus der alten Zeit, die damals mit Dragos’ Gefährtin Kassia in Verbindung gestanden hatte. Vor all diesen Jahrhunderten hatte sie ihnen etwas Wertvolles übergeben, doch selbst Folter hatte Marek nicht die Antworten gebracht, die er benötigte.

Und nun war der Orden dabei, der Wahrheit jeden Moment näherzukommen. Bei dem Gedanken daran biss Marek wütend die Zähne zusammen. Er hatte nicht so lange gearbeitet, so lange gewartet, nur damit ihm jetzt alles durch die Finger rann. An diese Möglichkeit würde er nicht einmal denken.

Er würde gewinnen.

Die wahre Schlacht fing jetzt erst an.

Einige Minuten, nachdem sie im Hauptquartier angekommen waren, brachte Tegan Elise zu seinem Quartier, damit sie duschen und sich etwas erholen konnte, während er zum Techniklabor aufbrach, wo sich der Orden auf seine Bitte hin versammelt hatte. Als er in den Raum trat, begrüßte Lucan ihn von seiner Position neben Gideons Computerkonsole aus mit einem wissenden Nicken. Niko, Kade und Brock saßen um den Tisch in der Mitte des Raumes, die beiden Neuen wirkten schon völlig integriert, wie sie mit Dante und Chase über ihre Abschussquoten von Rogues in dieser Woche aufschnitten und damit, wer von ihnen das schärfste Auge gehabt hatte.

Aber es war der Anblick von Rio, der Tegan vor Überraschung und Befriedigung zum Lächeln brachte. Der Spanier stand an die hintere Wand des Labors gelehnt, etwas entfernt von den anderen, mit einem dumpfen, brütenden Gesichtsausdruck, aber aufmerksam. Entschlossenheit strahlte von ihm aus wie eine elektrische Ladung. Als er bei Tegans Ankunft grüßend das Kinn hob, straffte sich die vernarbte Seite seines Gesichts durch ein grimmiges Lächeln.

Die einst so lebendigen, topasfarbenen Augen waren nun hart und von tödlicher Nüchternheit erfüllt.

Tegan sah seine Brüder an, die einen seit Jahrhunderten seine Kampfgefährten und die anderen, die sich erst noch bewähren mussten. Er konnte nicht anders - eine Welle des Stolzes stieg in ihm auf, zu ihnen zu gehören. Für lange Zeit hatte er gedacht, er kämpfe diesen Krieg allein. Natürlich stärkten Lucan und die anderen ihm immer den Rücken, so wie er ihnen, aber bisher hatte Tegan jede Schlacht gekämpft, als sei es einzig und allein die seine.

Jeden Tag, den er gelebt hatte, hatte er sich in seiner dunklen Isolierung gesuhlt … bis eine mutige Schönheit ihn lehrte, das Licht nicht zu fürchten. Jetzt, wo er sie gefunden hatte, wollte er dafür sorgen, dass die Dunkelheit, die er gekannt hatte, sie nie berühren würde.

Und das bedeutete, sie vor Marek in Sicherheit zu bringen.

„Was gibt es Neues von Peter Odolf?“, fragte Lucan, als Tegan den Ledersack mit seiner Ausrüstung auf den Tisch hievte.

„Die meiste Zeit hat er nur Unsinn gefaselt. Und die übrige Zeit war er komatös.“ Tegan zog die handbeschriebenen Seiten aus dem Sack, die sie von Irina bekommen hatten, und reichte sie Lucan. „Bevor er zum Rogue mutierte, hat Odolf geschrieben, zwanghaft und heimlich. Und sein Bruder, der einige Zeit vor ihm auch zum Rogue wurde, war ähnlich besessen. Kommt dir das bekannt vor?“

„Scheiße. Das gleiche Zeug, wie wir es in dem Tagebuch gefunden haben, hinter dem Marek her war.“

Tegan nickte. „Odolf sagte etwas Seltsames in einem der wenigen Momente, als er klar im Kopf war. Als Elise und ich ihn fragten, was das Rätsel bedeutet, sagte er ,da versteckt er sich’.“

„Wer versteckt sich wo?“, fragte Gideon, nahm Lucan die Briefe aus der Hand und überflog sie rasch. Einen der Verse las er laut vor. „Bezieht sich das auf einen bestimmten Ort?“

„Vielleicht. Odolf hat es uns nicht gesagt. Vielleicht weiß er es nicht.“ Tegan zuckte die Schultern. „Das ist alles, was er uns gab, danach fing er wieder mit seinem wirren Gerede an. Wir sind mit ihm nicht weitergekommen.“

Dante erhob sich aus seiner lässigen Haltung vom Tisch und setzte mit einem Rumms die Füße auf den Boden. „Was auch immer es bedeutet, es ist wichtig genug, um Mareks Interesse zu wecken. Und das hat noch nie etwas Gutes bedeutet.“

„Er ist bereit, jeden zu töten, der sich ihm in den Weg stellt“, fügte Tegan hinzu. „Nachdem er herausgefunden hatte, dass wir in Berlin sind, hat Marek einigen seiner Lakaien in der Stadt den Befehl erteilt, Elise zu töten. Einem von ihnen wäre es fast gelungen.“