„Das waren ein paar finstere Tage“, sagte Savannah. „Es war schlimm, Eva so zu verlieren. Ich dachte, sie wäre eine Freundin.
Was sie Rio und den anderen antat, ist einfach unverzeihlich.“
„Rio verzeiht es ihr definitiv nicht“, fügte Tess hinzu. „Dante und ich machen uns große Sorgen um ihn. Manchmal frage ich mich, ob er schon zu weit ist … du weißt schon, innen drin.
Wenn ich mit ihm arbeite, habe ich manchmal das Gefühl, eine scharfe Handgranate anzuschauen, die nur auf einen Grund wartet, um hochzugehen.“
Savannah stieß ein trockenes Lachen aus. „Schon übel, wenn Rio so weit ist, dass Tegan neben ihm wie ein Musterknabe wirkt.“
Elise senkte die Augen, spürte, wie sich ihr schon bei der bloßen Erwähnung von Tegan die Wangen röteten. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie, dass Gabrielle sie genau beobachtete. „Er war doch nicht zu furchterregend in Berlin? Er macht es anderen nicht gerade leicht, sich in seiner Gesellschaft aufzuhalten.“
„Nein. Nein, gar nicht“, sagte Elise, um ihn in Schutz zu nehmen. „Er war freundlich, hat gut auf mich aufgepasst und ist, nun, so kompliziert, dass man am liebsten aus der Haut fahren möchte. Er ist der emotional intensivste Mann, den ich je getroffen habe. Und er ist … so viel mehr, als die Leute denken.“
Es wurde still im Raum. Drei Augenpaare ruhten gebannt auf ihr, jede der drei Stammesgefährtinnen sah ihr dabei zu, wie sie rot wurde bis an die Haarwurzeln.
„Elise“, sagte Gabrielle langsam, in ihren Augen blitzte Verstehen auf. „Du und Tegan … wirklich?“
Bevor sie eine Erwiderung stammeln konnte, hatte sie Gabrielle schon überglücklich in die Arme geschlossen. Auch die beiden anderen Stammesgefährtinnen gratulierten ihr, und Elise kamen fast die Tränen, so herzlich in ihren schwesterlichen Kreis aufgenommen zu werden.
Durch ihren Tränenschleier hindurch erblickte Elise zum ersten Mal den Wandteppich, der am anderen Ende der Bibliothek in der Ecke hing. Die Farben der mittelalterlichen Szene waren immer noch frisch und strahlend, der Ritter auf seinem Pferd so detailgenau dargestellt, als wäre es ein Gemälde.
Die Kunstfertigkeit dieser Stickerei war wirklich außergewöhnlich … Vertraut …
Und unverkennbar.
Sie hatte ein ähnlich aufwendiges Stück gesehen, als sie sich mit Irina Odolf getroffen hatte. Die Stickereiarbeit, in die die Briefe eingeschlagen waren, die Irina gefunden hatte.
„Dieser Wandteppich“, sagte sie, fast unfähig zu atmen. „Wo kommt er her?“
„Er gehört Lucan“, sagte Gabrielle. „Er wurde um das Jahr 1300 für ihn angefertigt. Vor langer Zeit, als der Orden noch jung war.“
Elises Herz begann ihr bis zum Hals zu schlagen. „Wer hat ihn gemacht, weißt du das?“
„Hm, eine Frau namens Kassia“, sagte Gabrielle. „Sie war die Stammesgefährtin eines der Krieger, die den Orden ursprünglich gegründet haben. Lucan sagt, ihr Talent mit Nadel und Faden war beispiellos, was man schon an den Details in diesem Stück sehen kann. Er sagte, dies war ihre letzte Arbeit und ihr erstaunlichstes Werk. Das ist Lucan auf dem Schlachtross …“
„Darf ich es mir mal ansehen?“, fragte Elise, stand auf und ging hinüber, um den Wandteppich genauer in Augenschein zu nehmen.
Auf einem Hügel in der Ferne, hinter dem Ritter auf dem steigenden Hengst, lag eine Burg unter einer schmalen Mondsichel. Einer zunehmenden Mondsichel.
Und unter den Hufen des Rosses lag ein zertrampeltes Feld mit tief eingezogenen Ackerfurchen.
Burg und Ackerkrume sollen sich unter der Mondsichel zusammenfinden
Das seltsame Rätsel ging ihr durch den Sinn, wieder hörte sie die gequälte Stimme von Peter Odolf.
Das konnte doch wohl nicht sein … oder doch?
Elise fuhr mit der Hand über die zierlichen Stiche am Saum des Gobelins. Alles war mit so absichtsvoller Sorgfalt vernäht worden. Und in der rechten unteren Ecke war das Zeichen der Stickerin eingearbeitet - das Symbol einer Stammesgefährtin, genau wie sie es auf der Stickerei gesehen hatte, die Irina ihr gezeigt hatte.
War da etwa irgendwo eine Nachricht verborgen?
Seit so langer Zeit?
„Was hast du, Elise?“ Gabrielle trat hinter sie. „Stimmt etwas nicht?“
Elises Puls raste. „Wäre es wohl möglich, diesen Teppich von der Wand zu nehmen?“
„Ich denke schon … klar, warum nicht.“ Sie stellte sich auf den gepolsterten Stuhl, der neben dem Wandteppich stand, und griff hinauf, um ihn von seinem Haken zu heben. Vorsichtig hielt Gabrielle den Gobelin in der Hand. „Was willst du damit machen?“
„Bitte lege ihn flach hin.“
„Ich räume den Tisch ab“, sagte Savannah, und sie und Tess machten sich daran, rasch das Essen und das Geschirr zur Seite zu räumen. „In Ordnung, bring ihn rüber.“
Elise folgte Gabrielle, als sie den Wandteppich ausbreitete.
Einen Augenblick lang studierte sie ihn schweigend und rief sich den Rest des kryptischen Verses ins Gedächtnis:
auf die östlichen Grenzlande richte den Blick am Kreuz liegt Wahrheit
„Ich würde gerne etwas ausprobieren. Dazu werde ich den Stoff falten, aber ich verspreche, dabei ganz vorsichtig zu sein.“
Als Gabrielle zustimmend nickte, schlug Elise das obere Ende des Wandteppichs um, sodass es in der Mitte zu liegen kam, dann hob sie das untere Ende und faltete es so, dass sich die Burg und das Feld unter Lucans Ross berührten.
„,Burg und Ackerkrume sollen sich unter der Mondsichel zusammenfinden‘“, murmelte sie und sah, wie die beiden Teile des Teppichs zusammen ein neues Bild ergaben.
„Es sieht wie eine Art Gebirge aus“, meinte Tess, als sich eine charakteristisch geformte Felsgruppe in den Stichen abzeichnete.
„Woher hast du gewusst, was du tun musst?“
„Das Odolf-Tagebuch enthielt seltsames Gekritzel - immer dieselben wirren Sätze, von denen Peter Odolf in den Wochen besessen war, bevor er der Blutgier verfiel und zum Rogue wurde. Dieselben Sätze, die auch sein Bruder schrieb, bevor er zum Rogue mutierte. Mein Gott … ich dachte schon, dieses Rätsel würden wir nie lösen können.“
Gabrielles Augen weiteten sich. „Du denkst, dieser Gobelin hat mit dieser Sache zu tun?“
„Das muss er“, flüsterte Elise. Wieder sah sie auf die gefaltete Stickerei hinab. „,Auf die östlichen Grenzlande richte den Blick‘ - vielleicht sollten wir den Teppich nach links drehen?“
Sie drehte den Gobelin um neunzig Grad, sodass sein oberer Rand nach Osten wies. Der gefaltete Mittelteil verlief nun vertikal. Und in dem Bild erschien plötzlich ein anderes, das zuvor nicht zu sehen gewesen war und erst in diesem neuen Blickwinkel offenbar wurde. In den Gobelin war der blasse Umriss eines Kreuzes eingestickt, und in seinem Mittelpunkt bildete sich aus den Fäden ein einziges Wort.
„Praha“, las Elise laut, erstaunt darüber, dass eine Stimme aus so alter Vergangenheit plötzlich durch die Seide und das Leinen dieser Stickarbeit zu ihnen sprach. „Das Geheimnis, was immer es auch ist, liegt in Prag.“
„Das ist ja unglaublich“, stieß Savannah hervor.
Sie streckte die Hand aus und strich mit den Fingern über den verborgenen Text. Kaum hatte sie die Nadelstiche berührt, zog sie auch schon die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
„Oh mein Gott.“ Ihre dunkelbraunen Augen waren vor Entsetzen geweitet. Wieder drückte sie die Hand auf den Stoff und hielt sie dort in ernstem Schweigen.
„Savannah, was spürst du da?“
Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme atemlos vor Grauen. „Dieser Gobelin enthält noch einige andere Geheimnisse.“
30
Die Krieger rüsteten sich gerade für ihre nächtliche Patrouille, als die automatische Glastür des Techniklabors aufglitt und vier wunderschöne Frauen hereingeeilt kamen. Elise und Gabrielle trugen den Gobelin aus Lucans Bibliothek, Tess und Savannah folgten ihnen mit ernsten Mienen. Savannah schien besonders grimmig. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich aufeinandergepresst, ihre Hände zuckten und ballten sich im Gehen.