„Verdammt“, zischte Dante. „Es würde diese Welt in ihren Grundfesten erschüttern, wenn etwas so Böses wieder entfesselt würde.“
Niko schnalzte mit der Zunge. „Und wenn sich jemand mit einer so tödlichen Macht verbünden würde? Jemand wie Marek …“
„Dieses Risiko können wir nicht eingehen“, sagte Lucan. „Also, es sieht so aus, als müssten wir allesamt schleunigst nach Prag und sehen, was wir dort finden.“
„Reichen in Berlin ist nur wenige Stunden von dort entfernt“, sagte Tegan. „Er hat uns seine Hilfe angeboten, wie auch immer er uns von Nutzen sein kann.“
Lucan kniff die Augen zusammen und dachte darüber nach.
„Ist er vertrauenswürdig?“
„Klar“, meinte Tegan und nickte in absoluter Gewissheit.
„Ich bürge für ihn.“
„Dann ruf ihn an. Aber beschränke die Einzelheiten auf ein Minimum. Lass ihn wissen, dass wir auf dem Weg sind und dass wir Transportmittel benötigen werden. Wir können uns bei der Ankunft in Berlin Tegel mit ihm treffen.“
„Sollten wir nicht lieber direkt nach Prag und uns dort mit ihm treffen?“, fragte Brock.
Tegan schüttelte den Kopf, er begriff Lucans Taktik. „Reichen ist vielleicht vertrauenswürdig, aber wir wissen nicht, ob es auch alle in seinem Umfeld sind. Marek weiß bereits, dass wir Interesse an Berlin haben. Ihm zu verraten, dass wir an Prag interessiert sind, wäre dumm.“
Lucan nickte. „Wir werden Reichen einweihen, wenn wir ankommen.“
„Gut“, sagte Gideon. „Ich besorge uns eine Flugfreigabe für heute Nacht.“
Es herrschte nicht das übliche Draufgängertum, als sich das Labor leerte und die Krieger sich daranmachten, sich auf die Mission vorzubereiten, die sie erwartete. Normalerweise hätte sich Tegan jetzt zurückgezogen, um in Ruhe nachzudenken. Er dachte, dass er das wohl tun sollte, aber dann schlang Elise ihre Finger zwischen die seinen, als sie im leeren Korridor stehen blieben.
„Geht’s dir gut?“, fragte sie, ihr Blick so nüchtern, wie auch seiner gerade sein musste. „Wenn du jetzt lieber allein bist, oder wenn du etwas zu tun hast …“
„Nein. Nein, hab ich nicht.“
Er dachte daran, es zurückzunehmen und ihr irgendwelchen Unsinn zu erzählen, dass er gerade anderswo gebraucht wurde, aber die Worte wollten nicht kommen. Außerdem merkte er, dass er ihre Hand nicht loslassen konnte.
In ein paar Stunden würde er aufbrechen, und die Chancen standen verdammt noch mal gut, dass er niemals zurückkommen würde.
Dieses Mal würde er mit einem Ziel vor Augen gehen: Marek persönlich auszuschalten. Auch wenn er selbst dabei draufgehen sollte. Es juckte Tegan, Marek persönlich den Kampf anzusagen, so oder so - der Hundesohn würde fallen.
„Komm“, sagte er zu Elise und hob ihr Kinn, damit er sie küssen konnte. „Jetzt gibt es nur einen einzigen Ort, an dem ich gerne sein will.“
Elise und Tegan verbrachten den Rest des Tages in seinem Quartier, liebten sich und vermieden es, darüber zu reden, was die Zukunft ihnen wohl bringen würde. Sie wusste, dass die Geheimnisse, die der Gobelin ihnen verraten hatte, schwer auf ihm lasteten - auf allen Kriegern des Ordens - , aber Tegan wirkte besonders distanziert, als der Sonnenuntergang näher rückte und sich die Gruppe der Krieger abfahrbereit machte. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen, so als sei er schon fort und bekämpfe den Geist eines Feindes, der ihn schon zu lange heimsuchte und nun endlich ausgetrieben werden musste.
Sein Anruf bei Reichen früher am Tag hatte beunruhigende Neuigkeiten gebracht: Peter Odolfs Blutgier hatte sich verstärkt, es ging ihm nicht gut. Aus der Hochsicherheitsanstalt hatte man verlauten lassen, dass sich der Zustand des Rogue in den Stunden, nachdem Tegan und Elise ihn das letzte Mal gesehen hatten, immer mehr verschlechtert hatte. An einem Punkt der Nacht bekam er schlimme Krämpfe und griff einen seiner Betreuer an, den er in einem Wutanfall fast tötete.
Was Tegan anging, war er über den Bericht, den Dr. Kuhn Reichen hatte zukommen lassen, äußerst skeptisch. Er traute dem Anstaltsleiter nicht, und als er das Telefongespräch mit Reichen beendete, hatte er dem Mann aus dem Dunklen Hafen die Anweisung erteilt, mehr über den Zustand des Rogue herauszufinden.
„Sei vorsichtig“, sagte Elise zu ihm, als sie sein Quartier verließen, um zu den anderen zu stoßen, die sich gerade im Hauptraum der Zentrale versammelten.
Tegan blieb stehen und küsste sie leidenschaftlich, aber in seinen Augen lag ein distanzierter Ausdruck.
„Ich liebe dich“, sagte sie, strich über seinen starken Unterkiefer und versuchte, das Gefühl der Besorgnis zu besänftigen, das in ihrer Brust um sich schlug wie ein Vogel, der seinem Käfig entkommen will. „Du kommst besser bald zu mir zurück, hörst du? Versprich es mir.“
Die anderen Krieger unterhielten sich im Korridor vor ihnen, das Geräusch lenkte ihn ab. Waffen und Ausrüstung klirrten, tiefe Männerstimmen dröhnten gegen die Marmorwände. Das war seine Welt, die nach ihm rief, die Pflicht, der er sich verschrieben hatte, schon viel länger, als sie überhaupt am Leben war.
„Tegan, versprich es mir“, sagte sie und zwang ihn, sie anzusehen. „Tu bloß nichts Heroisches.“
Seine Mundwinkel kräuselten sich zu einem trockenen Grinsen. „Ich und was Heroisches? Keine Chance.“
Sie lächelte mit ihm, aber ihre Füße fühlten sich wie Blei an, als sie den Rest der Strecke den Korridor hinaufgingen, wo der Orden und Tegans Rolle in ihm sie erwarteten.
Alle anderen waren bereits versammelt. Elise sah in die ernsten Gesichter der anderen Stammesgefährtinnen, Tess und Gabrielle hielten sich an ihren Gefährten fest, während sich der Zeitpunkt der Abfahrt unerbittlich näherte. Es war entschieden worden, dass Gideon im Hauptquartier zurückbleiben würde, wo er die Operation von der Zentrale aus überwachen und die Anlaufstelle für die Krieger im Feld sein konnte.
Die größte Überraschung war Rio. Der rekonvaleszente Krieger trug seine volle Kampfmontur und wartete mit den anderen zusammen, den Blick seiner topasfarbenen Augen voller Wut.
Sein muskelbepackter Körper strahlte reine Bedrohung aus - weiß glühend und unberechenbar -, und plötzlich verstand Elise Tess’ Besorgnis um ihn. Er war furchterregend, auch wenn er nur ruhig dastand.
Elise widerstand dem Drang, sich fester an Tegans Hand zu klammern, als sie spürte, wie sich sein Arm anspannte. Er schickte sich an, sich zu seinen Brüdern zu gesellen.
Gott, sie wollte ihn nicht gehen lassen.
Nicht jetzt, wo sie einander doch gerade erst gefunden hatten.
„In Ordnung“, sagte Lucan, sein Blick fest, als er jeden der Krieger einzeln ansah. „Dann wollen wir mal.“
31
Andreas Reichen wartete mit zwei Mercedes-Geländewagen auf der Landebahn des Flughafens Berlin Tegel auf sie. Tegan machte eine schnelle Vorstellungsrunde, während die Krieger ihre Sachen hinten in die Fahrzeuge warfen und dann Platz nahmen für die Fahrt zu Reichens Dunklem Hafen, der als vorübergehendes Hauptquartier der Operation fungieren würde.
„Es ist mir eine Ehre, Sie zu unterstützen“, sagte Reichen zu Lucan und Tegan, als die drei Männer die letzten Gepäckstücke und Waffenkisten verluden. „Ich habe mich oft gefragt, wie es wohl wäre, an der Seite des Ordens zu kämpfen.“
„Seien Sie vorsichtig, was Sie sich da wünschen“, knurrte Lucan. „Kommt darauf an, wie die Dinge laufen, aber die Chancen stehen gut, dass wir Sie auf dem Schlachtfeld rekrutieren müssen.“
„Schau lieber nicht so begeistert“, sagte Tegan, dem das begierige Aufblitzen in den Augen des Zivilisten nicht entging.
„Was gibt’s Neues aus der Hochsicherheitsanstalt?“