Oh Gott. Tegan schloss die Augen, erst jetzt verstand er, was Sorcha durchlitten haben musste - und zwar von Mareks Hand.
„Sie ist schnell zusammengebrochen, aber das wusste ich schon vorher. Stark war sie nie. Nur ein süßes junges Ding, das deinem Schutz vertraute.“ Marek hielt inne, als dachte er nach.
„Es kam mir fast wie eine Verschwendung vor, eine Lakaiin aus ihr zu machen. Ich hatte sie kaum angefasst, da plauderte sie auch schon all ihre Geheimnisse bereitwillig aus. Ihre Schmerztoleranz war nur sehr niedrig.“
„Du Hurensohn“, zischte Tegan. „Du kranker, verdammter Hurensohn! Warum dann? Warum hast du ihr das angetan?“
„Weil ich es konnte“, erwiderte Marek.
Tegans Aufbrüllen hallte bis ins hohe Dachgebälk hinauf, rüttelte an den schwarz verhängten Fenstern. Er kämpfte gegen seine Fesseln an, aber der wilde Adrenalinschub ließ ihn nur hustend und erschöpft zurück. Die Handschellen schnitten in seine Handgelenke, als er wieder zusammensackte und mit vollem Gewicht an ihnen hing, seine Schenkel zu schwach, um ihn zu halten.
„Und weil ich es kann, Tegan“, fügte Marek hinzu, „werde ich dich töten, und alle, die dir etwas bedeuten, wenn du mir nicht sagst, was dieses gottverdammte Rätsel bedeutet. Sag mir, wo ich den Alten finde!“
Tegan keuchte, hing hilflos in seinen Ketten. Von dem Beruhigungsmittel trübte sich sein Verstand bereits wieder, ihm wurde schwindlig. Marek sah mit distanzierter Ruhe zu, hielt sich aber außer Reichweite. Betont lässig ging er zur Tür und winkte zweien seiner Lakaien, die dort Wache standen. Er wies auf Kuhns geschändete Leiche.
„Bringt diesen stinkenden Kadaver hier raus und lasst ihn brennen.“
Während seine Diener herbeieilten, um seinen Befehl auszuführen, richtete Marek seine Aufmerksamkeit wieder auf Tegan.
„Du siehst mir so aus, als ob du etwas Zeit bräuchtest, um darüber nachzudenken, was ich dich gefragt habe. Also denk nach, Tegan. Denk scharf nach. Und wenn ich zurückkomme, plaudern wir weiter.“
Als Gideon sie in Tegans Quartier aufsuchte, genügte Elise ein einziger Blick in sein Gesicht, und sie wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war.
„Es ist Lucan“, sagte er. „Er muss mit dir reden.“ Sie nahm ihm das Handy aus der Hand und schluckte, bevor sie sprach.
„Was ist mit ihm passiert?“, fragte sie in den Hörer und hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, jetzt, da jede einzelne Zelle ihres Körpers vor Schreck erstarrte. „Lucan, sag mir, dass er in Ordnung ist.“
„Ich, hm, das weiß ich nicht sicher, Elise. Hier drüben ist etwas passiert.“
Still und starr hörte sie zu, wie Lucan ihr von Tegans Verschwinden erzählte. Seit mehreren Stunden hatten sie ihn nicht mehr gesehen, nichts mehr von ihm gehört. Lucan wollte den Rest des Ordens bei Sonnenuntergang mit Reichen nach Prag schicken, aber er selbst wollte in Berlin bleiben, um nach Tegan zu suchen. Er wusste nicht genau, wo er mit seiner Suche beginnen sollte oder wie lange es dauern würde, die Stadt nach einem Hinweis darauf zu durchkämmen, wo er sein mochte. Weil er vermutete, dass sie und Tegan eine Blutsverbindung eingegangen waren, war das beste Mittel, Tegan aufzuspüren, Elise.
„Wir können uns nicht sicher sein“, sagte Lucan, „aber ich glaube, dass Marek ihn hat. Und wenn das der Fall ist, haben wir nicht viel Zeit, bis …“
„Ich bin schon unterwegs.“ Sie warf Gideon, der draußen auf dem Gang wartete, einen Blick zu. „Kannst du mir einen Flug besorgen, sofort?“
„Der Jet des Ordens ist immer noch in Berlin, aber ich kann versuchen, einen anderen zu chartern.“
„Keine Zeit“, sagte sie. „Und einen normalen Linienflug?“
Er runzelte besorgt die Stirn. „Willst du wirklich einen halben Tag lang mit mehreren Hundert Leuten in einem Flugzeug eingepfercht sein? Denkst du, du hältst das aus?“
Sie war sich keineswegs sicher, aber davon würde sie sich verdammt noch mal nicht abhalten lassen. Selbst wenn sie per Anhalter mit einer Maschine voll verurteilter Mörder nach Berlin fliegen müsste, würde sie es tun, wenn sie so dafür sorgen konnte, dass Tegan gerettet würde.
„Tu’s einfach, Gideon. Bitte. Buch einen Flug für mich, den ersten, den du kriegen kannst.“
Er nickte und rannte im Laufschritt über den Korridor davon, um sich um die Details zu kümmern.
„Ich komme, so schnell ich kann, Lucan.“
Sie hörte, wie er ausatmete, die Vorsicht in seiner Stimme.
Lucan war nicht davon überzeugt, dass sie etwas für Tegan tun konnten, selbst wenn sie es schafften, ihn zu finden.
„Okay“, sagte er. „Ein Wagen wird dich abholen und zu Reichens Anwesen bringen. Wir fangen mit unserer Suche an, sobald du angekommen bist.“
33
Der Flug nach Berlin war lang und beanspruchte all ihre Kraft.
Elise nahm jede lange Minute, jede Stunde, wie sie kam, entschlossen, dass sie stärker war als die Fähigkeit, der sie so lange ausgeliefert gewesen war. Dass sie das Schlimmste inzwischen abwenden konnte, hatte sie Tegan zu verdanken - nicht nur, weil er ihr gezeigt hatte, wie sie ihre übersinnliche Gabe in den Griff bekommen konnte, sondern wegen ihrer Liebe zu ihm, die sie antrieb. Selbst als die altbekannte, tückische Migräne schon nach einer knappen Flugstunde begann, sich in ihre Schläfen zu bohren.
Elise hielt durch, weil sie es musste. Weil es gut möglich war, dass Tegans Leben jetzt von ihr abhing.
Gott, sie konnte jetzt nicht versagen.
Sie konnte alles ertragen, außer ihn zu verlieren.
Sobald das Fahrwerk an diesem Abend auf der Landebahn aufsetzte, verdoppelte sich Elises Entschlossenheit, Tegan zu finden und sicher nach Hause zu bringen, sogar noch. Sie rannte im Laufschritt aus der Abfertigungshalle. Draußen wartete Lucan in einem von Reichens Autos auf sie.
„Dir ist klar, dass Tegan mich dafür umbringen wird, dich da hineingezogen zu haben. Falls wir ihn wirklich finden“, sagte Lucan, als sie sich dem Wagen näherte. Sein Tonfall klang scherzhaft, aber ihr entging nicht, dass in seinen grauen Augen keinerlei Belustigung lag.
„Nicht falls wir ihn finden, Lucan. Wenn wir ihn gefunden haben. Hier gibt es kein falls.“
Sie warf ihre kleine Reisetasche hinten ins Auto und kletterte auf den Beifahrersitz. „Fahren wir. Ich will mich heute Nacht nicht ausruhen, ehe wir jede einzelne Straße dieser Stadt durchsucht haben.“
Dante, Reichen und der Rest des Ordens hielten die beiden Geländewagen am Rand einer mondbeschienenen, waldumsäumten Straße im Umland von Prag an. Hier draußen war der Wald dicht, nur ein paar winzige Lichter von fernen Häusern glänzten in der Dunkelheit. Sie stiegen aus, sieben Stammesvampire in schwarzen Tarnanzügen und bis an die Zähne bewaffnet mit Maschinengewehren, Tausenden von Titangeschossen und einer schönen Kiste voller C-4-Sprengstoff.
Jeder Krieger trug auch ein Breitschwert in einer Scheide auf den Rücken geschnallt - eine unkonventionelle Waffe für moderne Kriegsführung, aber wenn man es mit etwas so Bösartigen und Mächtigen zu tun hatte wie der Kreatur, die sie aus ihrem Winterschlaf erwecken wollten, absolut unerläßliche Ausrüstung.
„Hier muss es sein.“ Dante zeigte auf die zerklüftete Silhouette des Bergrückens, der vor ihnen lag. „Der Umriss ist genau der gleiche wie auf Kassias Gobelin.“
„Wahrscheinlich wird es ein paar Stunden dauern, um da raufzukommen“, warf Niko ein. Seine Wangengrübchen vertieften sich von seinem begierigen Grinsen, das weiße Glänzen seiner Zähne stand hell gegen die nächtliche Dunkelheit. „Worauf warten wir? Gehen wir und holen uns den alten Drecksack.“