Sie stiegen aus dem Wagen und gingen mit schnellen, vorsichtigen Schritten auf die menschliche Behausung zu. Als sie näher herankamen, traf Elise nicht nur der Schmerz, den Tegan zu leiden hatte, sondern auch die wachsende Gewissheit, dass Lakaien auf dem Grundstück waren. Ihr Kopf füllte sich mit einem Konzert übelster Gedanken, hässlicher Stimmen, die auf ihr Bewusstsein einhämmerten.
„Lucan“, flüsterte sie und bewegte lautlos die Lippen, um ihn zu warnen. „Lakaien im Haus - mehr als nur einer.“
Er nickte und winkte ihr zu, sich neben ihn zu stellen. An der Hauswand lief ein hölzernes Spalier hinauf, er packte es und prüfte seine Belastbarkeit. „Kannst du da hochklettern?“
Sie griff die behelfsmäßige Leiter und begann, sich daran hochzuziehen. Lucan wartete oben schon auf sie; alles, was er brauchte, um auf den Balkon im ersten Stock zu gelangen, war ein kräftiger Satz. Er landete geräuschlos aus seinem geschmeidigen Sprung und streckte die Hand aus, um ihr dabei zu helfen, sich vollends hochzuziehen.
Flügeltüren öffneten sich auf den gefliesten Balkon, die weißen Vorhänge bauschten sich gespenstisch. Drinnen konnte Elise eine Frau im Nachthemd erkennen, die bewegungslos auf dem Fußboden lag. Ihr Arm war ausgestreckt, das übel zugerichtete Handgelenk ruhte in einer Blutpfütze.
„Marek“, sagte Lucan leise, um das üble Gemetzel zu erklären. „Schaffst du es, da durchzugehen?“
Elise nickte. Sie folgte ihm durch den Schauplatz der Gewalt, vorbei an der Toten und deren Ehemann, der offenbar erfolglos versucht hatte, die todbringende Vampirattacke abzuwehren. In Elises Kehle stieg ein bitterer Geschmack hoch, als sie auf den Gang hinaustraten und dort die Leiche eines kleinen Jungen fanden.
Oh Gott.
Marek ist hier eingebrochen und hat die ganze Familie umgebracht!
Lucan führte sie an dem Kind vorbei, nahm sie am Handgelenk und hielt sie dicht hinter sich, als er mit einem schnellen Blick die Diele überprüfte. Sie spürte einen plötzlichen Ansturm von übersinnlichem Schmerz, hatte aber den Lakaien nicht kommen sehen, bis er direkt vor ihnen stand. Er war aus einem anderen Zimmer gekommen, gerade als sie an der Tür vorbeigehen wollten. Lucan brachte Mareks mental gesteuerten Sklaven zum Schweigen, bevor der Mann die Gelegenheit bekam, einen Warnruf loszuwerden. Der Lakai stammelte vor Schock ein paar unverständliche Wortfetzen, als ihm ein Dolch tief durch die Kehle schnitt, dann fiel er leblos zu Boden. Lucan war dabei nicht einen Moment lang stehen geblieben, er stieg über die Leiche und wartete, bis Elise dasselbe tat.
Als sie sich einem Treppenhaus näherten, das zum obersten Stockwerk des Gebäudes führte, brannten plötzlich Elises Venen in einem elektrischen Impuls auf. Sie konnte fast schon Tegans Herz spüren, wie es in ihrem eigenen Körper schlug, seine gequälten Atemzüge schnürten ihr die eigene Lunge ein.
„Lucan“, flüsterte sie und zeigte zu der offenen Tür. „Tegan.
Da oben.“
Er bewegte sich in den dunklen Treppenschacht und sah hinauf. „Bleib dicht hinter mir.“
Zusammen stiegen sie die steile, enge Treppe hinauf. Am oberen Ende befand sich eine verriegelte Tür. Lucan hob das Vorhängeschloss an. Er sah zu ihr zurück, und selbst in der Dunkelheit konnte sie seinen Gesichtsausdruck sehen, der sie warnte, sich für das zu wappnen, was sie auf der anderen Seite erwartete. Was auch immer es sein mochte.
Tegan war hinter dieser abgeschlossenen Tür, und er war am Leben. So viel wusste sie sicher, und das war auch alles, was sie jetzt wissen musste. „Tu’s, Lucan“, flüsterte sie.
Er stieß die Türe auf und raste hindurch wie ein Güterzug in voller Fahrt, zückte eine riesige Klinge und stieß sie dem Lakaien, der in Angriffshaltung auf sie zugestürmt kam, tief in den Körper. Elise unterdrückte einen Aufschrei, als ein weiterer Lakai sich dazugesellte und eine ähnliche Behandlung bekam. Er sackte schwer auf die hölzernen Planken des Fußbodens, um ihn herum breitete sich eine Blutpfütze aus.
Aber es war Tegans Anblick, der sie vor Kummer fast zum Aufheulen brachte. Mit Handschellen und Fußeisen an zwei schwere Holzbalken gekettet, hing sein Körper schlaff und schwer in seinen Fesseln. Sein schönes Gesicht war fast verborgen hinter seinem schweißnassen, blutüberströmten Haar, aber Elise konnte trotzdem sehen, was man ihm angetan hatte. Er war überall blutüberströmt und zerschlagen. Man hatte ihn erst vor Kurzem gefoltert, und sein Körper hatte noch nicht die Zeit gehabt, das zerstörte Gewebe und die gebrochenen Knochen wieder zu heilen.
Sie hielt ihn für bewusstlos, bis sich plötzlich eine sichtbare Anspannung über seine Muskeln ausbreitete. Er wusste, dass sie da war. Er konnte ihre Anwesenheit spüren, wie auch sie die seine immer und überall spüren würde.
„Tegan!“ Schon wollte sie zu ihm laufen, fuhr aber abrupt zurück, als er den Kopf hob und sie den rasiermesserscharfen Glanz der Wut in seinen Augen sah. „Oh Gott … Tegan.“
„Verschwinde!“ Seine Stimme war ein rohes, heiseres Flüstern. Die bernsteingelben Augen, die sie unter der zerschlagenen Stirn anstarrten, waren erfüllt von tierhafter, tobender Wut und Schmerz. Seine Fangzähne waren riesenhaft, tödlicher, als sie sie je gesehen hatte. Er riss an den Ketten, die ihn festhielten. „Verdammt noch mal! Verschwinde, sofort!“
„Tegan.“ Jetzt trat Lucan vor ihn hin, näherte sich ihm vorsichtig, aber ohne zu zögern. Er streckte die Hand nach einer der Fesseln aus, die um Tegans Handgelenke befestigt waren. „Wir holen dich hier raus.“
„Zurück!“, knurrte er.
Lucan schnüffelte in der Luft. „Was zum Teufel …?“ Er wischte mit dem Daumen unter Tegans Nase, wo sich eine blasse rosa Kruste angesammelt hatte. „Ach, zum Teufel noch mal, Tegan. Crimson?“
„Marek … Er hat mir eine Menge von dem Scheißzeug gegeben, Lucan …“, grunzte Tegan, während sich die geschlitzten Pupillen in den bernsteingelb glühenden Augen noch stärker zusammenzogen. „Kapierst du’s jetzt endlich? Es ist Blutgier. Ich bin schon zu weit.“
„Nein, bist du nicht“, sagte Elise zu ihm.
„Jesus“, zischte er durch seine riesigen Fangzähne. „Lasst mich - alle beide! Wenn du mir helfen willst, Lucan, dann bring sie zum Teufel noch mal hier raus. Bring sie weit weg von hier.“
Elise trat an ihn heran und strich ihm sanft über sein blutverklebtes Haar. „Ich gehe nirgendwohin, Tegan. Ich liebe dich.“
Während sie versuchte, Tegan zu beruhigen, riss Lucan mit einem mächtigen Ruck die Kette vom Pfosten los. Tegans Arm fiel herab, Metall klirrte. Als er nach der anderen greifen wollte, war es Tegan, der ihm eine Warnung zuknurrte.
„Lucan …“ Zu spät.
Der Schuss krachte scharf durch den dämmrigen Raum. In der Nähe der Treppe flammte eine orangefarbene Explosion auf.
Lucan wurde in den Rücken getroffen und fiel auf ein Knie.
Wieder krachte ein Schuss, aber das helle Einschlaggeräusch ließ erkennen, dass die Kugel ihr Ziel verfehlt hatte und auf Stein getroffen war.
Mehr Schüsse krachten, als zwei Lakaien und ein Rogue - Mareks Henker, alle mit halbautomatischen Waffen - in den Raum drängten und zu feuern begannen. Elise spürte, wie sich ein schweres Gewicht um sie schloss und sie in einen Schutzwall aus harten Muskeln zog. Tegans Atem zischte rau in ihrem Ohr, aber sein freier Arm war um sie gelegt, sein Körper über sie gebeugt, um sie vor dem Kugelregen zu schützen.
Sie fühlte sich hilflos, wie sie dabei zusah, wie Lucan mit drei Gegnern gleichzeitig kämpfte, während sie im schützenden Käfig von Tegans Körper kauerte. Lucan gelang es, einigen Maschinengewehrsalven auszuweichen, aber eine Menge der Geschosse trafen ihr Ziel. Der Gen-Eins-Krieger hielt dem Angriff stand und erwiderte das Feuer, während der Raum in einem raucherfüllten, ohrenbetäubenden Chaos versank. Der Rogue fiel im Kugelhagel, getroffen von Lucans Titangeschossen. Sein Körper zischte und zuckte auf dem Boden, der Tod holte ihn sich schnell.