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Sie verstummte und dachte an Camden, und all die anderen Jugendlichen aus den Dunklen Häfen, die dem Gift der Rogues verfallen waren und ihr Leben verloren hatten. Selbst Quentins Leben war durch einen Stammesvampir abgekürzt worden, der zum Rogue mutiert war und ihn angefallen hatte, als er gerade mit der Aufsicht der Agentur beschäftigt war.

Elise konnte keines der verlorenen Leben zurückbringen, das wusste sie. Aber jeden Tag, den sie auf der Jagd war, jeder Lakai, den sie eliminierte, bedeutete eine Waffe weniger im Arsenal der Rogues. Der Schmerz, den sie bei dieser Aufgabe ertragen musste, war nichts im Vergleich dazu, was ihr Sohn und seine Freunde hatten erdulden müssen. Der eigentliche Tod bestand für sie darin, zu einem untätigen Leben im Schutz der Dunklen Häfen verdammt zu sein und nichts zu tun, während sich die Straßen vom Blut der Unschuldigen röteten.

Das war es, was sie nicht ertragen konnte.

„Es ist mir wichtig, Tegan. Ich habe ein Versprechen gegeben. Und ich habe vor, es zu halten.“

Er blieb stehen und warf einen ausdruckslosen Blick über die Schulter. „Es ist deine Beerdigung“, sagte er und zog die Wohnungstür hinter sich zu.

4

Tegan warf das letzte von Elises Jagdsouvenirs in einen abgelegenen Abschnitt des Charles River und sah zu, wie sich das dunkle Wasser kräuselte, als das Handy in der Brühe versank.

Wie all die anderen, die er und die anderen Krieger auf ihren Patrouillen konfisziert hatten, würden die verschlüsselten Handys dem Orden nichts nützen. Und er würde sie garantiert nicht bei Elise lassen, deaktivierte GPS-Chips hin oder her.

Himmel, er konnte nicht glauben, was sich diese Frau geleistet hatte. Noch unglaublicher war, dass ihre verrückte Vendetta schon Wochen, wenn nicht Monate dauerte. Offensichtlich hatte ihr Schwager keine Ahnung davon, oder der ehemalige Musteragent der Dunklen Häfen hätte der Sache schnell ein Ende bereitet. Jeder Angehörige des Ordens wusste, dass Sterling Chase einst tiefere Gefühle für die Witwe seines Bruders gehegt hatte - und daran hatte sich seither vermutlich nichts geändert.

Nicht, dass es Tegan etwas anging. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sich Elise offensichtlich den Tod wünschte.

Tegan rammte die Hände in die Taschen seines offen stehenden Ledermantels und ging zur Straße zurück, sein Atem verließ seine Lippen in einer Dampfwolke. Wieder einmal schneite es in Boston. Ein stürmischer Vorhang feiner weißer Flocken fiel auf die Stadt herunter, die schon seit Wochen in eisiger Winterstarre lag. Der Winter in diesem Jahr war ungewöhnlich kalt. Tegan wusste, dass die Lufttemperatur weit unter Null lag, aber er spürte die Kälte nicht. Er konnte sich kaum daran erinnern, wann er sich das letzte Mal in irgendeiner Weise körperlich unwohl gefühlt hatte. Das letzte Mal, dass er Freude empfunden hatte, war sogar noch länger her.

Zur Hölle, wann war es gewesen, dass er das letzte Mal auch nur irgendetwas empfunden hatte?

Er erinnerte sich an Schmerz.

Und an Verlust, die Wut, die ihn einst verzehrt hatte … vor langer, langer Zeit.

Er erinnerte sich an Sorcha und wie sehr er sie geliebt hatte.

Daran, wie süß und unschuldig sie gewesen war, und wie unendlich sie ihm vertraut hatte; darauf, dass sie bei ihm in Sicherheit war, dass er sie beschützte.

Gott, wie sehr er sie im Stich gelassen hatte! Er würde nie vergessen, was ihr angetan worden war, wie grausam man sie misshandelt hatte. Um den Schlag zu überleben, den ihr Tod ihm versetzt hatte, hatte er gelernt, seinen Kummer und seine rohe Wut von sich abzuspalten. Aber vergessen konnte er nie, und er würde niemals vergeben.

Nach über fünfhundert Jahren, die er nun schon Rogues abschlachtete, war ihm noch nicht annähernd gelungen, diese alte Rechnung zu begleichen.

Etwas von demselben Kummer hatte er heute Abend in Elises Augen gesehen. Etwas, das sie mehr geliebt hatte als ihr Leben, war ihr genommen worden, und sie wollte Gerechtigkeit. Was sie bekommen würde, war der Tod. Wenn ihr Umgang mit den Rogues und deren menschlichen, mental gesteuerten Sklaven sie nicht umbrachte, würde es die Schwäche ihres Körpers tun. Elise hatte versucht, ihre Erschöpfung vor ihm zu verbergen, aber sie war Tegan trotzdem nicht entgangen. Die Abgespanntheit, die er in ihr sah, ging tiefer als reine körperliche Erschöpfung, obwohl er mit einem Blick auf ihre ausgezehrte Gestalt sehen konnte, dass sie sich vernachlässigte, seit sie ihren Dunklen Hafen verlassen hatte - vielleicht auch schon länger. Und was sollte die Schallisolierung, die sie an die Wände ihrer Behausung genagelt hatte?

Scheiße. Kann mir doch egal sein.

Es ging ihn wirklich überhaupt nichts an, erinnerte er sich, als er auf das geheime Hauptquartier des Ordens zutrottete, das etwas außerhalb der Stadt lag. Das alte, aus Ziegeln und Kalksteinblöcken erbaute Herrenhaus und die umliegenden weitläufigen Ländereien waren von einem hohen, elektrischen Sicherheitszaun und einem massiven Eisentor umgeben, die mit Kameras und Bewegungsmeldern ausgerüstet waren. Es hatte noch nie jemand auch nur annähernd geschafft, dort einzubrechen.

Nur sehr wenige Angehörige der Vampirbevölkerung wussten, wo genau sich dieser Ort befand. Und diejenigen, die ihn kannten, waren sich im Klaren darüber, dass das Anwesen im Besitz des Ordens war, und klug genug, sich fernzuhalten, es sei denn, sie bekamen eine direkte Einladung. Was die Menschen anging, waren die vierzehntausend Volt völlig ausreichend, um Neugierige fernzuhalten. Die von der dümmeren Sorte kamen nach dem Kontakt mit der Einzäunung entweder halb gegrillt wieder zu sich oder hatten einen monstermäßigen Kater, nachdem die Krieger ihnen das Gedächtnis gesäubert hatten - keine dieser Optionen war besonders angenehm, allerdings waren beide äußerst effektiv.

Tegan tippte seinen Zugangscode in den verborgenen Ziffernblock der Schließanlage neben dem Tor und schlüpfte hinein, als die schweren eisernen Torflügel sich teilten, um ihn durchzulassen.

Sobald er im Inneren war, verließ er die lange, asphaltierte Auffahrt und ging querfeldein durch das bewaldete Grundstück.

Etwa siebzig Meter vor ihm konnte er durch das schneebedeckte Fichtendickicht schwach die Lichter des Anwesens sehen. Obwohl sich das wahre Hauptquartier der Krieger unterirdisch, unter dem neogotischen Prachtbau befand, war es durchaus üblich, dass einer oder mehrere Krieger und ihre Gefährtinnen das Haus abends für Abendessen oder gesellige Anlässe benutzten.

Aber wer auch immer heute Abend dort war, hatte alles andere als angenehmen Zeitvertreib im Sinn.

Als sich Tegan dem Gebäude näherte, hörte er ein wildes, animalisches Brüllen, gefolgt vom Geräusch splitternden Glases.

„Was zum …“

Wieder ertönte ein lautes Krachen, noch ungestümer als das erste Mal. Das Geräusch kam offenbar aus dem opulenten Foyer des Herrenhauses. Es klang, als schlüge dort jemand - oder etwas - alles kurz und klein. Tegan sprang die Marmortreppe zum Haupteingang hinauf und drückte gegen das verwitterte, schwarz lackierte Holz, eine Klinge in der Faust. Als er hineinging, knirschten seine Stiefel auf einem Teppich von Porzellan- und Glasscherben.

„Du lieber Himmel“, murmelte er und sah sich nach dem Verursacher der Zerstörung um.

An eine antike Kredenz in der Mitte des gefliesten Foyers gelehnt stand ein Krieger, seine vernarbten, olivbraunen Hände auf die mit Schnitzereien verzierten Kanten des Möbelstücks gestützt, als ob das allein ihn aufrecht hielt. Er war völlig durchnässt, sein Oberkörper nackt und er trug nur eine lose, graue Baumwolltrainingshose, die aussah, als wäre er eben erst hastig hineingefahren. Sein dunkler Kopf hing tief herunter, lange, espressofarbene Haarsträhnen hingen ihm übers Gesicht, glatt und glänzend vor Nässe. Die Dermaglyphen, die sich über seine nackte Brust und Schultern zogen, waren von intensiver Farbe, das komplizierte Muster der Stammeszeichen pulsierte wütend auf seiner Haut.