Tegan ließ seine Waffe sinken und hielt die Klinge mit der Hand verdeckt, bis er sie wieder in die Scheide gesteckt hatte.
„Alles klar, Rio?“
Der Krieger stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus, weniger Begrüßung als ein Nachbeben seines Wutanfalls. Wasser rann an ihm herunter und sammelte sich zu einer Pfütze um seine nackten Füße und die verstreuten Scherben einer unbezahlbaren Limoges-Schüssel, die er eben von der Kredenz gefegt hatte. Die Oberfläche des Mahagonischrankes war von Glasscherben bedeckt; den Spiegel im vergoldeten Stuckrahmen, der über der Kredenz an der Wand hing, hatten die blutigen Fingerknöchel von Rios rechter Hand in Stücke geschmettert.
„So spät noch am Umdekorieren, alter Junge?“ Tegan ging näher an ihn heran, die Augen fest auf den wutverkrampften, muskulösen Körper des Kriegers gelichtet. „Wenn es dich tröstet, für diesen französischen Schickimickischeiß hatte ich auch noch nie was übrig.“
Rio stieß einen rauen, bebenden Atemzug aus und warf dann den Kopf herum, um Tegan anzusehen. In seinen topasfarbenen Augen lag immer noch ein bernsteingelber Schimmer, ihr Licht fuhr durch den dunklen Vorhang seines Haares und strahlte die Hitze des Wahnsinns ab, der nach wie vor in ihm brodelte.
Zwischen seinen geöffneten Lippen schimmerte der knochenweiße Glanz seiner voll ausgefahrenen Fangzähne, als er die Luft durch die Zähne sog.
Tegan wusste, dass es nicht Blutgier war, die die wilde Seite des Kriegers ausgelöst hatte. Es war Wut. Und Gewissensbisse.
Ihr metallischer Geschmack erfüllte die Luft, strahlte in heißen Wellen von Rio ab.
„Ich hätte sie töten können“, keuchte er mit einer heiseren, gequälten Stimme, die so gar nichts mit dem üblichen weichen Bariton des Spaniers gemein hatte. „Ich musste da sofort raus, pronto. Irgendwie bin ich plötzlich … ausgetickt, verdammt noch mal.“ Mit einem raubtierhaften Zischen holte er keuchend Luft. „Scheiße, Tegan … ich wollte - musste - jemandem wehtun.“
Jeder andere wäre von diesen Worten wohl beunruhigt gewesen, doch Tegan beobachtete Rio nur ruhig, betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die von Brandnarben und Splitterwunden verunstaltete linke Seite von Rios Gesicht, die zwischen den nassen Haarsträhnen hervorschimmerte. Es war nicht viel übrig von dem gut aussehenden, kultivierten Mann, der einst das entspannteste Mitglied des Ordens gewesen war, immer einen Scherz oder ein Lächeln auf den Lippen. Die Explosion, die er im letzten Sommer knapp überlebt hatte, hatte ihm sein gutes Aussehen für immer genommen, und die Enthüllung, dass es seine eigene Stammesgefährtin Eva gewesen war, die ihn verraten und in den tödlichen Hinterhalt gelockt hatte, hatte ihm den Rest gegeben.
„Madre de Dios“, flüsterte Rio heiser. „Keiner sollte in meiner Nähe sein. Ich verliere meinen verdammten Verstand! Was, wenn ich … Cristo, was, wenn ich ihr etwas antue? Tegan, was, wenn ich ihr wehtue?“
Tegans Sinne wurden auf der Stelle in Alarmbereitschaft versetzt. Der Krieger redete nicht von Eva. Sie hatte sich selbst gerichtet, an dem Tag, als ihr Verrat entdeckt worden war. Die einzige andere Frau, mit der Rio jetzt regelmäßigen Kontakt hatte, war Tess, Dantes Gefährtin. Seit ihrer Ankunft im Hauptquartier vor einigen Monaten hatte Tess mit Rio gearbeitet. Sie setzte ihre Gabe der heilenden Berührung ein, um seinen zerschmetterten Körper zu heilen, so gut sie konnte, und versuchte, ihm zu helfen, sich von den körperlichen und seelischen Blessuren zu erholen, die er bei seinem Unfall davongetragen hatte.
Ach, Scheiße.
Wenn der Krieger sie verletzt hatte, zufällig oder absichtlich, würde es ernsthaften Ärger geben. Dante liebte seine Frau mit einer Intensität, die alle anderen im Hauptquartier überraschte.
Früher der rücksichtslose Tunichtgut, war Dante von Tess komplett um den Finger gewickelt worden, und was die anderen darüber dachten, war ihm egal. Wenn seiner Gefährtin etwas zustieß, würde Dante Rio mit bloßen Händen töten.
Tegan zischte einen Fluch. „Was hast du getan, Rio? Wo ist Tess jetzt?“
Rio schüttelte unglücklich den Kopf und machte eine vage Geste in Richtung des hinteren Flügels des weitläufigen Herrenhauses. Tegan war schon dabei, in die angegebene Richtung loszustürmen, als im selben Moment eilige Schritte im langen Korridor ertönten, der vom Hauptflügel des Gebäudes zum hauseigenen, unterirdischen Schwimmbecken führte. Leichte Schritte von nackten Füßen näherten sich, gefolgt von einer besorgten Frauenstimme.
„Rio? Bio, wo bist …“
Quietschend kam Tess um die Ecke geschliddert. Sie trug schwarze Trainingshosen über einem nassen, babyblauen Badeanzug und sah wie eine typische Physiotherapeutin bei der Arbeit aus. Aber jeder Mann, der auch nur halbwegs Augen im Kopf hatte, musste verrückt sein, um nicht zu bemerken, wie atemberaubend sie all das Nylon und Lycra ausfüllte. Ihr langes, honigbraunes Haar wurde in einem Pferdeschwanz zusammengehalten, an den Haarspitzen feucht und lockig vom Wasser des Pools. Nackte Füße mit pfirsichfarben lackierten Zehennägeln blieben abrupt am Rand des Trümmerfeldes aus Porzellanscherben stehen.
„Oh, mein Gott. Rio … bist du in Ordnung?“
„Er ist okay“, sagte Tegan zu ihr. „Und du?“
Tess hob unwillkürlich die Hand an den Hals, aber sie nickte. „Mir geht’s gut. Rio, bitte sieh mich an. Es ist okay. Wie du sehen kannst, fehlt mir absolut nichts.“
Aber irgendetwas war vor wenigen Minuten vorgefallen, das war offensichtlich. „Was ist passiert?“
„Wir hatten bei unserer heutigen Sitzung ein paar Rückschläge, aber nichts Ernstes.“
„Sag ihm, was ich mit dir gemacht habe“, murmelte Rio.
„Sag ihm, wie ich im Becken weggetreten und erst wieder zu mir gekommen bin, als ich dir die Hände um den Hals gelegt und dich gewürgt habe.“
„Heilige Muttergottes“, knurrte Tegan, und nun, als Tess die Finger vom Hals nahm, konnte er dort verblassende Würgemale sehen. „Und du bist okay, bist du sicher?“
Sie nickte. „Er hat es nicht so gemeint und sofort losgelassen, als er erkannte, was er da gerade tat. Mir geht’s gut, wirklich.
Und ihm wird es auch wieder besser gehen. Das weißt du doch, Rio, nicht wahr?“
Vorsichtig, um nicht auf Scherben zu treten, kam Tess auf sie zu, doch sie hielt dabei eine gesunde Distanz zu Tegan, als wäre er eine größere Bedrohung ihrer Sicherheit als das verwilderte Wrack, das Rio war.
Tegan nahm es ihr nicht übel. Seine bevorzugte Lebensweise war die des Einzelgängers, und er arbeitete hart daran, dass es auch so blieb. Er sah zu, wie sich Tess langsam auf Rio zubewegte, der immer noch in seiner steifen Haltung an die Kredenz gekrallt dastand.
Sanft legte sie dem Krieger die Hand auf die vernarbte Schulter. „Ich bin mir sicher, morgen wird es besser gehen. Jeder Tag bringt uns kleine Fortschritte.“
„Es wird nicht besser“, murmelte Rio. Es hätte nach Selbstmitleid klingen können, schien aber mehr wie ein düsteres Begreifen. Mit einem wütenden Aufknurren schüttelte er Tess’
Hand ab. „Man sollte mich einschläfern. Das wäre ein Segen …
für alle, besonders für mich. Ich bin nutzlos. Dieser Körper - mein Verstand - alles nutzlos geworden, verdammt noch mal!“
Rio knallte die Faust auf die Kredenz, brachte die Spiegelscherben zum Klirren und das zweihundert Jahre alte Mahagoni zum Beben.
Tess zuckte zurück, aber in ihren blaugrünen Augen lag Entschlossenheit. „Du bist nicht nutzlos. Um zu heilen, braucht es Zeit, das ist alles. Du kannst jetzt nicht aufhören.“