Sebastian Haffner
Geschichte eines Deutschen
Die Erinnerungen 1914–1933
Stuttgart – München 2000
Deutsche Verlags–Anstalt
Editorische Notiz
»Geschichte eines Deutschen« von Sebastian Haffner ist ein Jugendwerk aus dem Nachlaß. Die Niederschrift des Textes kann auf den Beginn des Jahres 1939 datiert werden. Eine englische Übersetzung war für eine Veröffentlichung in England angefertigt worden. Der Text ist jedoch nie erschienen, weder auf englisch noch auf deutsch. Eine Lücke in der deutschen Textfassung konnte durch eine Rückübersetzung aus dem Englischen von Oliver Pretzel geschlossen werden (S. 54–68).
Deutschland ist nichts,
aber jeder einzelne De utsche ist viel.
(GOETHE, 1808)
Zunächst das Wichtigste: »was tun und treiben
Sie eigentlich in dieser großen Zeit?
Ich sage: groß: denn alle Zeiten scheinen
mir Groß, wo sich der Einzelne zuletzt,
auf gar nichts stehend als auf seinen Beinen,
dazu vom Zehengeist halbtotgehetzt,
Besinnen muß, ob nolens oder volens,
auf nichts geringeres als eben SICH!
Die Pause eines bloßen Atemholens
genügt bisweilen – Sie verstehen mich.«
(PETER GAN, 1935)
Prolog
1
Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zum Gegenstand eine Art von Duell.
Es ist ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern: einem überaus mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und einem kleinen, anonymen, unbekannten Privatmann. Dies Duell spielt sich nicht auf dem Felde ab, das man gemeinhin als das Feld der Politik betrachtet; der Privatmann ist keineswegs ein Politiker, noch weniger ein Verschwörer, ein »Staatsfeind«. Er befindet sich die ganze Zeit über durchaus in der Defensive. Er will nichts weiter, als das bewahren, was er, schlecht und recht, als seine eigene Persönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private Ehre betrachtet.
Dies alles wird von dem Staat, in dem er lebt und mit dem er es zu tun hat, ständig angegriffen, mit äußerst brutalen, wenn auch etwas plumpen Mitteln.
Unter furchtbaren Drohungen verlangt dieser Staat von diesem Privatmann, daß er seine Freunde aufgibt, seine Freundinnen verläßt, seine Gesinnungen ablegt, vorgeschriebene Gesinnungen annimmt, anders grüßt als er es gewohnt ist, anders ißt und trinkt als er es liebt, seine Freizeit für Beschäftigungen verwendet, die er verabscheut, seine Person für Abenteuer zur Verfügung stellt, die er ablehnt, seine Vergangenheit und sein Ich verleugnet, und vor allem für alles dies ständig äußerste Begeisterung und Dankbarkeit an den Tag legt.
Das alles will der Privatmann nicht. Er ist wenig vorbereitet auf den Angriff, dessen Opfer er ist, er ist kein geborener Held, noch weniger ein geborener Märtyrer. Er ist einfach ein Durchschnittsmensch mit vielen Schwächen, noch dazu das Produkt einer gefährlichen Epoche: Dies aber will er nicht. Und so läßt er sich auf das Duell ein – ohne Begeisterung, eher mit Achselzucken; aber mit einer stillen Entschlossenheit, nicht nachzugeben. Er ist selbstverständlich viel schwächer als sein Gegner, dafür freilich etwas geschmeidiger. Man wird sehen, wie er Ablenkungsmanöver macht, ausweicht, plötzlich wieder ausfällt, wie er balanciert und schwere Stöße um Haaresbreite pariert. Man wird zugeben, daß er sich im Ganzen für einen Durchschnittsmenschen ohne besonders heldische oder märtyrerhafte Züge ganz wacker hält. Dennoch wird man sehen, wie er zum Schluß den Kampf abbrechen – oder, wenn man will, auf eine andere Ebene übertragen muß.
Der Staat ist das Deutsche Reich, der Privatmann bin ich. Das Kampfspiel zwischen uns mag interessant zu betrachten sein, wie jedes Kampfspiel. (Ich hoffe, es wird interessant sein!) Aber ich erzähle es nicht allein um der Unterhaltung willen. Ich habe noch eine andere Absicht dabei, die mir noch mehr am Herzen liegt.
Mein privates Duell mit dem Dritten Reich ist kein vereinzelter Vorgang. Solche Duelle, in denen ein Privatmann sein privates Ich und seine private Ehre gegen einen übermächtigen feindlichen Staat zu verteidigen sucht, werden seit sechs Jahren in Deutschland zu Tausenden und Hunderttausenden ausgefochten – jedes in absoluter Isolierung und alle unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Manche von den Duellanten, heldischere oder märtyrerhaftere Naturen, haben es weiter gebracht als ich: bis zum Konzentrationslager, bis zum Block, und bis zu einer Anwartschaft auf künftige Denkmäler.
Andere sind schon viel früher erlegen und sind heute schon längst still murrende S.A.–Reservisten oder N.S.V.–Blockwalter. Mein Fall mag gerade ein Durchschnittsfall sein. Man kann recht gut an ihm ablesen, wie heute die Chancen in Deutschland für den Menschen stehen.
Man wird sehen, daß sie ziemlich hoffnungslos stehen. Sie brauchten nicht ganz so hoffnungslos zu stehen, wenn die Außenwelt wollte. Ich glaube, daß die Außenwelt ein Interesse daran hat, zu wollen, daß sie weniger hoffnungslos stehen. Sie könnte – zwar nicht mehr den Krieg; dazu ist es zu spät – aber ein paar Kriegsjahre dadurch sparen. Denn die Deutschen guten Willens, die ihren privaten Frieden und ihre private Freiheit zu verteidigen suchen, verteidigen, ohne es zu wissen, noch etwas anderes mit: den Frieden und die Freiheit der Welt.
Es scheint mir deswegen immer noch der Mühe wert, die Aufmerksamkeit der Welt auf diese Vorgänge im unbekannten Deutschland zu lenken.
Ich will in diesem Buch nur erzählen, keine Moral predigen. Aber das Buch hat eine Moral, welche, wie das »andere und größere Thema« in Elgars Enigma–Variationen »durch und über das Ganze geht«
– stumm. Ich habe nichts dagegen, daß man nach der Lektüre alle die Abenteuer und Wechselfälle wieder vergißt, die ich erzähle. Aber ich wäre sehr befriedigt, wenn man die Moral, die ich verschweige, nicht vergäße.
2
Ehe der totale Staat fordernd und drohend auf mich zutrat und mich lehrte, was es heißt, Geschichte am eigenen Leibe zu erleben, hatte ich schon eine ganz hübsche Menge von dem miterlebt, was man »historische Ereignisse« nennt. Alle Europäer der jetzt lebenden Generation können das von sich sagen; und gewiß niemand mehr als die Deutschen.
Alle diese historischen Ereignisse haben selbstverständlich ihre Spuren hinterlassen: in mir so gut wie in allen meinen Landsleuten; und man versteht nicht, was später geschehen konnte, wenn man dies nicht versteht.
Aber es ist ein wichtiger Unterschied zwischen allem, was vor 1933 geschah, und dem, was dann kam: Alles frühere zog an uns vorbei und über uns hin, es beschäftigte und es regte uns auf, und den einen oder andern tötete es oder ließ ihn verarmen; aber keinen stellte es vor letzte Gewissensentscheidungen. Ein innerster Lebensbezirk blieb unberührt. Man machte Erfahrungen, man bildete Überzeugungen: Aber man blieb, was man war. Keiner, der, willig oder widerstrebend, in die Maschine des Dritten Reichs geraten ist, kann das ehrlich von sich sagen.
Offenbar hat geschichtliches Geschehen einen verschiedenen Intensitätsgrad. Ein »historisches Ereignis« kann in der wirklichen Wirklichkeit, also im eigentlichsten, privatesten Leben der einzelnen Menschen, fast unregistriert bleiben – oder es kann dort Verheerungen anrichten, die keinen Stein auf dem andern lassen. In der normalen Geschichtsdarstellung sieht man ihm das nicht an. »1890: Wilhelm II. entläßt Bismarck.« Gewiß ein großes, fettgedrucktes Datum in der deutschen Geschichte.
Aber schwerlich ein Datum in der Biographie irgendeines Deutschen, außerhalb des kleinen Kreises der Beteiligten. Jedes Leben ging weiter wie zuvor. Keine Familie wurde auseinandergerissen, keine Freundschaft ging in die Brüche, keiner verließ seine Heimat, nichts dergleichen. Nicht einmal ein Rendezvous oder eine Opernvorstellung wurde abgesagt. Wer unglücklich verliebt war, blieb es, wer glücklich verliebt war, blieb es, die Armen blieben arm, die Reichen reich... Und nun vergleiche man damit das Datum »1933: Hindenburg betraut Hitler.« Ein Erdbeben beginnt in 66 Millionen Menschenleben!