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Dann wurden Schecks für die Miete und das Schulgeld ausgestellt, und am Nachmittag ging die ganze Familie zum Friseur. Was übrig blieb, wurde meiner Mutter ausgehändigt – und am nächsten Tag stand die ganze Familie, auch das Dienstmädchen, nur nicht mein Vater, um vier oder fünf Uhr früh auf, und fuhr mit dem Taxi zum Großmarkt. Dort wurde ein Großeinkauf organisiert und innerhalb einer Stunde wurde das Monatsgehalt eines Oberregierungsrates für unverderbliche Speisen ausgegeben. Riesige Käse, ganze Schinken, Kartoffeln zentnerweise wurden in das Taxi geladen. Wenn der Platz nicht ausreichte, besorgte das Dienstmädchen mit einem von uns noch einen Handkarren. Ungefähr um acht Uhr, noch vor Schulanfang kehrten wir nach Hause, mehr oder weniger für eine einmonatige Belagerung versorgt. Und das war das Ende. Es gab einen Monat lang kein weiteres Geld. Ein freundlicher Bäcker lieferte Brot auf Kredit. Sonst lebte man von Kartoffeln, Geräuchertem, Büchsen, Suppenwürfel. Gelegentlich kam eine unerwartete Nachzahlung, aber es war gut möglich, daß man einen Monat lang so arm war, wie der Ärmste der Armen, nicht einmal imstande, eine einfache Straßenbahnfahrt oder eine Zeitung zu bezahlen. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn uns etwas zugestoßen wäre, eine schwere Krankheit oder ein anderes Unglück.

Für meine Eltern muß dies eine böse und schwere Zeit gewesen sein. Für mich war sie seltsam eher als unangenehm. Die Tatsache, daß mein Vater zur Arbeit einen überaus umständlichen Umweg nehmen mußte, hielt ihn den größten Teil des Tages von Zuhause fern, und gab mir dadurch viele unbeaufsichtigte Stunden der absoluten Freiheit. Ich hatte kein Taschengeld mehr; aber meine älteren Schulgenossen waren buchstäblich reich, und man raubte ihnen nichts, indem man sich zu ihren verrückten Festen einladen ließ. Ich schaffte es, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber unserer Armut zu Hause und dem Reichtum meiner Freunde zu bewahren. Ich bedauerte weder das eine, noch beneidete ich das andere, sondern fand beides nur seltsam und merkwürdig. In der Tat lebte ich damals nur mit einem Teil meines Ichs in der Gegenwart, so anregend sie auch immer sein mochte. Viel aufregender war die Welt der Bücher, in die ich eintauchte, und die den größeren Teil meines Wesens erobert hatte. Ich las die »Buddenbrooks« und »Tonio Kröger«, »Niels Lyhne« und

»Malte Laurids Brigge« und die Gedichte von Verlaine, dem frühen Rilke, George und Hofmannsthal, Flauberts »Novembre«, Wildes »Dorian Gray«, und Heinrich Manns »Flöten und Dolche«.

Ich verwandelte mich in etwas den Helden dieser Bücher ähnliches, einen weltmüden, fin–de–siècle dekadenten Schönheitssuchenden. Ein schäbiger, etwas wild aussehender Sechzehnjähriger, der seinen Anzügen entwachsen war und einen Haarschnitt dringend nötig hatte, ging ich durch die fieberhaften, leprösen Straßen des inflationären Berlins mit der Haltung und dem Gefühl eines Mannschen Patriziers oder eines Wildeschen Dandys. Es tat diesen Gefühlen keinen Abbruch, daß ich am gleichen Morgen mit dem Dienstmädchen Schachteln Käse und Säcke Kartoffeln auf eine Karre gestapelt hatte.

Und waren diese Gefühle ganz ungerechtfertigt? Waren sie nur durch den Lesestoff eingeimpft worden? Ganz abgesehen davon, daß ein Sechzehnjähriger zwischen Herbst und Frühling zur Lebensmüdigkeit, Langeweile, und Trübsinn neigt, hatten wir nicht genug hinter uns – ich und meinesgleichen – um uns das Recht zu geben, das Leben mit müden skeptischen, blasierten, leicht höhnischen Augen anzusehen, und in uns selbst etwas von Thomas Buddenbrook und Tonio Kröger zu finden?

Wir hatten das große Kriegsspiel hinter uns, und den Schock des Ausgangs; einen sehr desillusionierenden politischen Lehrgang in Revolution, und jetzt das tägliche Schaustück des Zusammenbruchs aller Lebensregeln und des Bankrotts von Alter und Erfahrung. Wir hatten schon eine ganze Reihe widersprüchlicher Glauben durchgemacht. Zunächst waren wir eine Weile Pazifisten gewesen, dann Nationalisten, später hatte uns die marxistische Aufklärung unterworfen (ein Vorgang, der viel mit der sexuellen Aufklärung gemein hat: beide sind inoffiziell und etwas illegal; beide benutzen die Schockmethode der Erziehung, und beide machen den Fehler, einen einzigen Teil, wichtig, aber im öffentlichen Umgang verpönt und aus Gewohnheits–Anstand ignoriert, für das Ganze zu halten, die Liebe in dem einen Fall und die Geschichte im anderen). Rathenau und sein Ende hatten uns die Sterblichkeit auch eines großen Mannes gelehrt; der Ruhrkrieg, daß, edle Absichten und anrüchige Geschäfte mit gleicher Leichtigkeit geschluckt werden konnten. Gab es noch etwas, das uns begeistern konnte? (Denn die Begeisterung ist für die Jugend die Würze des Lebens.) Nichts außer der Betrachtung zeitloser Schönheit, wie sie die Gedichte von George und Hofmannsthal durchglühte, der Arroganz des Skeptikers, und nicht zu vergessen, den Träumen der Liebe.

Kein Mädchen hatte bisher meine Liebe erweckt, aber ein Junge, der meine Ideale teilte und meinen Büchergeschmack. Es war eines jener fast pathologischen, ätherischen, verschämten,

leidenschaftlichen Verhältnisse, wie sie nur Jungen miteinander unterhalten können, und nur solange Mädchen noch nicht richtig in ihr Leben eingetreten sind. Die Fähigkeit dazu verwelkt bald.

Nach der Schule pflegten wir die Straßen stundenlang zu durchwandern, den Dollarkurs irgendwo nachzuschlagen, uns mit einem herablassenden Minimum an Gedanken und Worten über die politische Lage zu einigen, und dann über Bücher zu reden. Wir hatten ausgemacht, bei jedem Gang ein neues Buch gründlich zu analysieren, und das taten wir. Schüchtern und voll ängstlicher Erregung tasteten wir uns so jeder durch des anderen Seele. Inzwischen tobte um uns herum das Fieber, die Gesellschaft zerbröckelte fast spürbar, und das deutsche Reich brach in Trümmer zusammen – aber nur um einen Hintergrund für tiefe Erörterungen über, sagen wir, das Wesen des Genies und ob es sich mit moralischer Schwäche und Dekadenz verträgt, zu stellen.

Was für ein Hintergrund: unvorhersehbar – unvergeßlich.

Im August erreichte der Dollar die Million. Wir lasen es mit leichten Atemstocken, als ob es die Ansage eines unglaublichen Rekords gewesen wäre. Vierzehn Tage später neigten wir schon dazu, darüber zu lachen, denn als ob er neue Energie an der Millionengrenze aufgenommen hatte, erhöhte der Dollar sein Tempo um das Zehnfache und fing sofort an, in Hundert–Millionen– und dann Milliardenschritten zu steigen. Im September hatte die Million keinen praktischen Wert mehr und die Milliarde wurde die Zahlungseinheit. Ende Oktober war es die Billion. Inzwischen ereignete sich Schreckliches. Die Reichsbank hörte auf, Noten zu drucken. Bei den Bankschaltern vorgelegt hatten einige ihrer Scheine – 10 Millionen? 100 Millionen? – nicht mit den Ereignissen Schritt gehalten.

Der Dollar und die allgemeine Preisentwicklung waren ihnen zuvorgekommen. Es gab nichts, das als Geld für praktische Bedürfnisse fungieren konnte. Einige Tage lang kam der Handel zum Stillstand, und in den ärmeren Stadtteilen bedienten sich die Leute, aller Zahlungsmittel beraubt, ihrer Fäuste und plünderten die Kolonialwarenläden. Einmal wieder wurde die Stimmung revolutionär.

Mitte August fiel die Regierung unter wilden Straßenunruhen. Wenig später wurde der »Ruhrkrieg«

aufgegeben. Wir dachten überhaupt nicht mehr daran. Wie lange war es her, daß die Besetzung des Ruhrgebietes uns hatte schwören lassen, ein einig Volk von Brüdern zu sein! Statt dessen erwarteten wir jetzt den Staatssturz, ja die Auflösung des Reichs – irgendein entsetzliches politisches Ereignis, das den Geschehnissen in unserem Privatleben entsprach. Nie hatte es so viel Gerüchte gegeben: das Rheinland war abtrünnig geworden, Bayern war abtrünnig geworden, der Kaiser war zurückgekehrt, die Franzosen waren einmarschiert. Die politischen »Bünde«, der Linken wie der Rechten, die jahrelang dahinvegetiert hatten, wurden plötzlich fieberhaft aktiv. Sie hielten Gewehrübungen in den Wäldern um Berlin; Gerüchte einer »schwarzen Reichswehr« sickerten durch, und man hörte eine Menge über »den Tag«.