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Es war schwer, das Mögliche vom Unmöglichen zu unterscheiden. Eine rheinische Republik bestand tatsächlich einige Tage. In Sachsen gab es für einige Wochen eine: kommunistische Regierung, gegen die die Reichswehr von der Reichsregierung losgeschickt wurde. Und eines schönen Tages erklärte die Zeitung, daß die Garnison von Küstrin zu einem »Marsch auf Berlin« angetreten sei.

Um diese Zeit verbreitete sich das Schlagwort »Verräter werden von der Feme gerichtet«. Und zu den Diebstahlsanzeigen der Polizei gesellten sich auf den Litfaßsäulen Vermißten– und Mord–Anzeigen.

Es verschwanden Leute dutzendweise. Fast immer war es jemand, der etwas mit den »Bünden« zu tun hatte. Jahre später wurden ihre Skelette in den Wäldern um Berlin oder in der Nähe ausgegraben. Innerhalb der Bünde war es Usus geworden, unzuverlässige oder verdächtige Kameraden ohne viel Federlesens zu beseitigen und sie irgendwo einzuscharren.

Wenn das Gerücht darüber einen erreichte, schien es nicht so unglaublich, wie es in »normalen«, zivilisierten Tagen gewesen wäre. Allmählich war die Stimmung sogar apokalyptisch geworden.

Erlöser rannten in Berlin hundertweise herum, Leute mit langem Haar, härenen Hemden, die erklärten, von Gott zur Errettung der Welt gesandt worden zu sein, und die durch diese Mission irgendwie ein Leben fristeten. Der erfolgreichste war ein gewisser Häusler, der mit

Litfaßsäulenreklamen und Massenversammlungen arbeitete, und viele Anhänger hatte.

Sein Münchner Gegenstück war laut den Zeitungen ein gewisser Hitler, der sich jedoch vom ersteren in seinen Reden unterschied, die einen aufregenden Gebrauch der Gemeinheit aufwiesen, die sie zu einem unerreichten Grad steigerten, in der Übertriebenheit ihrer Drohungen und unverhohlenen Grausamkeit. Während Hitler das Tausendjährige Reich durch den Massenmord aller Juden herbeiführen wollte, gab es in Thüringen einen gewissen Lamberty, der es durch allgemeinen Volkstanz, Singen und Luftsprünge erreichen wollte. Jeder Erlöser hatte seinen eigenen Stil. Nichts und niemand war überraschend; die Überraschung war etwas schon lange vergessenes.

Der Münchner Häusler, das heißt Hitler, füllte die Schlagzeilen zwei Tage lang im November mit der unglaublichen Unternehmung, eine Revolution in einem Bierkeller zu veranstalten. In Wirklichkeit war der Revolutionszug durch eine Feuerrunde der Polizei gewaltsam auseinander getrieben worden, sobald er den Keller verlassen hatte, und das war das Ende der Revolution. Einen ganzen Tag lang jedoch dachten Leute ernsthaft, dies sei die erwartete Revolution. Unser Griechischlehrer hat, als er die Nachricht hörte, uns freudig mit einem nicht unsicheren Instinkt vorhergesagt, daß wir in wenigen Jahren alle wieder Soldaten sein würden. Und war nicht die Tatsache, daß ein solches Abenteuer überhaupt stattfinden konnte, viel interessanter als sein Fehlschlag? Die Erlöser hatten offensichtlich eine Chance. Nichts war unmöglich. Der Dollar stand bei einer Billion. Und das Paradies war um Haaresbreite versäumt worden.

Dann passierte etwas seltsames. Die unglaubliche Mär begann eines Tages die Runde zu machen, es würde bald wieder Geld »von beständigem Wert« geben, und etwas später wurde es Wirklichkeit.

Kleine häßlich grau–grüne Scheine mit dem Schriftzug »eine Rentenmark«. Wenn jemand sie zum ersten Mal in Zahlung gab, wartete er etwas erstaunt um zu sehen, was geschehen würde. Es geschah nichts. Sie wurden tatsächlich angenommen und er erhielt seine Ware – Ware im Werte einer Billion. Das gleiche geschah am nächsten Tag, und am Tag danach, und am folgenden Tag.

Unglaublich.

Der Dollar hörte aufzusteigen. Aktien auch. Und wenn man sie in Rentenmark verwandelte, siehe! sie waren zu nichts geworden, wie alles andere. Also behielt keiner etwas. Aber plötzlich wurden Löhne und Gehälter in Rentenmark ausgezahlt, und etwas später, Wunder über Wunder, erschienen sogar Groschen und Sechsen feste blinkende Münzen. Man konnte sie in der Tasche klingen lassen, und außerdem behielten sie ihren Wert. Man konnte am Donnerstag noch etwas kaufen mit dem Geld, das man am vorigen Freitag erhalten hatte. Die Welt war voller Überraschungen.

Einige Wochen davor war Stresemann Kanzler geworden. Die Politik wurde mit einem Schlage viel ruhiger. Niemand sprach mehr von Reichsverfall. Murrend zogen sich die »Bünde« in eine Art Winterschlaf zurück. Viele Mitglieder wurden abtrünnig. Man hörte kaum noch von Vermißten. Die Erlöser verschwanden aus den Städten. Die Politik schien ausschließlich aus einem Streit unter den Parteien zu bestehen darüber, wer die Rentenmark erfunden hatte. Die Nationalisten behaupteten es sei Helfferich, ein konservativer Abgeordneter und früherer Minister unter dem Kaiser. Das wurde von der Linken feurig abgestritten: sie behauptete es sei ein zuverlässiger Demokrat und fester Republikaner, ein gewisser Dr. Schacht. Das waren die Tage nach der Sintflut. Alles war verloren –

aber die Wasser ließen nach. Die Alten konnten noch nicht auf der Alterserfahrung herumleiern; die Jungen waren etwas vor den Kopf gestoßen. Die einundzwanzigjährigen Bankdirektoren mußten wieder Gehilfenstellen suchen und die Primaner mußten sich wieder mit ihren zwanzig Mark Taschengeld begnügen. Natürlich gab es einige »Opfer der Währungsstabilisation«, die Selbstmord begingen. Aber die Zahl derer war viel größer, die jetzt zaghaft aus ihren Schlupflöchern hervorlugten und sich fragten, ob es wieder möglich war zu leben.

Eine Katerstimmung hing in der Luft, aber auch eine gewisse Erleichterung. Zu Weihnachten wurde ganz Berlin ein riesiger Weihnachtsmarkt. Alles kostete zehn Pfennig und jeder kaufte Klappern, Marzipantiere und sonstiges kindisches Zeug, nur um sich zu beweisen, daß man wieder etwas für zehn Pfennig kaufen konnte. Vielleicht auch um das letzte Jahr, die ganzen letzten zehn Jahre, zu vergessen und sich wieder wie ein Kind zu fühlen.

An allen Ständen hingen Plakate: »Friedenspreise wieder«. Zum ersten Mal sah es wirklich nach Frieden aus.

11

Und so war es. Die einzige echte Friedenszeit, die meine Generation in Deutschland erlebt hat, war angebrochen: ein Zeitraum von sechs Jahren, 1924 bis 1929, in dem Stresemann die deutsche Politik vom Außenamt beherrschte. »Die Stresemann–Epoche«.

Vielleicht kann man von der Politik das gleiche sagen wie von den Frauen, die Beste ist die am wenigsten beredete. Wenn das stimmt, war Stresemanns Politik überragend. Zu seiner Zeit gab es kaum eine politische Diskussion. Ein bißchen die ersten zwei oder drei Jahre: das Aufräumen der Verwüstungen der Inflation, der Dawes–Plan, Locarno, Thoiry, und der Beitritt zum Völkerbund waren Ereignisse, die noch diskutiert wurden, aber nur diskutiert. Auf einmal war Politik nicht mehr etwas, über das man Teller zerbrach.

Nach etwa 1926 gab es überhaupt nichts mehr beredenswertes. Die Zeitungen mußten ihre Schlagzeilen in fernen Ländern suchen.

Bei uns war nichts Neues, alles war geordnet, alles ging seinen ruhigen Gang. Manchmal gab es einen Regierungswechsel, manchmal regierten die Rechtsparteien, manchmal die Linksparteien.

Man merkte keinen großen Unterschied. Immer hieß der Außenminister Gustav Stresemann. Das bedeutete: Frieden, keine Krisen zu erwarten, business as usual.

Es kam Geld ins Land, das Geld behielt seinen Wert, die Geschäfte gingen gut, die älteren Leute fingen an, ihre Lebenserfahrung wieder aus der Rumpelkammer zu holen, blank zu putzen und zur Schau zu stellen, als wäre sie nie außer Kurs gesetzt gewesen. Die letzten zehn Jahre gerieten in Vergessenheit wie ein böser Traum. Das Himmelreich war wieder weit entfernt, keinerlei Nachfrage nach Heilanden oder Revolutionären. In der öffentlichen Sphäre konnte man nur ordentliche Verwaltungsbeamte gebrauchen, in der privaten tüchtige Kaufleute. Es gab jedes vernünftige Maß von Freiheit, Ruhe, Ordnung, wohlwollendste Liberalität weit und breit, gute Löhne, gutes Essen und ein wenig öffentliche Langeweile. Jedermann war seinem Privatleben zurückgegeben und herzlichst eingeladen, sich sein Leben nach seinem Geschmack einzurichten und auf seine Fasson selig zu werden.