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Nun aber ereignete sich etwas Seltsames – und hiermit glaube ich eins der fundamentalsten politischen Ereignisse unserer Zeit bekanntzugeben, das in keiner Zeitung gestanden hat: Diese Einladung blieb im großen und ganzen unbefolgt. Man wollte gar nicht. Es zeigte sich, daß eine ganze Generation in Deutschland mit dem Geschenk eines freien Privatlebens nichts anzufangen wußte.

Ungefähr zwanzig Jahrgänge junger und jüngster Deutscher waren daran gewöhnt worden, ihren ganzen Lebensinhalt, allen Stoff für tiefere Emotionen, für Liebe und Haß, Jubel und Trauer, aber auch alle Sensationen und jeden Nervenkitzel sozusagen gratis aus der öffentlichen Sphäre geliefert zu bekommen – sei es auch zugleich mit Armut, Hunger, Tod, Wirrsal und Gefahr. Nun, da diese Belieferung plötzlich ausblieb, standen sie ziemlich hilflos da, verarmt, beraubt, enttäuscht und gelangweilt. Wie man aus eigenem lebt, wie man ein kleines privates Leben groß, schön und lohnend machen kann, wie man es genießt und wo es interessant wird, das hatten sie nie gelernt.

So empfanden sie das Aufhören der öffentlichen Spannung und die Wiederkehr der privaten Freiheit nicht als Geschenk, sondern als Beraubung. Sie begannen sich zu langweilen, sie kamen auf dumme Gedanken, sie wurden mürrisch – und sie warteten schließlich geradezu gierig auf die erste Störung, den ersten Rückschlag oder Zwischenfall, um die ganze Friedenszeit zu liquidieren und neue kollektive Abenteuer zu starten.

Um genau zu sein – die Angelegenheit verdient Genauigkeit, denn nach meiner Ansicht bildet sie den Schlüssel zu dem ganzen weltgeschichtlichen Abschnitt, in dem wir leben –: Nicht alle, nicht jeder einzelne aus der jüngeren deutschen Generation reagierte so. Es gab auch welche, die in dieser Zeit, ein wenig unbeholfen und verspätet, sozusagen leben lernten; die Geschmack am eigenen Leben fanden, sich erfolgreich vom Fusel der Kriegs– und Revolutionsspiele entwöhnten und begannen, Persönlichkeiten zu werden. Tatsächlich bereitete sich damals, vollkommen unsichtbar und unregistriert, jener ungeheure Riß vor, der heute das deutsche Volk in Nazis und Nichtnazis spaltet.

Ich erwähnte schon im Vorübergehen, daß die Begabung meines Volkes zum persönlichen Leben und persönlichen Glück ohnehin schwächer ausgebildet ist als die anderer Völker. Ich habe später in Frankreich und England mit einem gewissen Staunen und nicht ohne Neid beobachtet und nachempfinden gelernt, welche Fälle von unverwelklichem Glück und welche unerschöpfliche Quelle von lebenslänglicher Unterhaltung etwa der Franzose aus dem verständig–geistreichen Essen und Trinken, dem männlichen Redestreit und der heidnisch–künstlerisch kultivierten Liebe, der Engländer aus seinen Gärten, dem Umgang mit Tieren und seinen vielen, kindlich–ernsthaft betriebenen Spielen und Hobbys gewinnt. Der Durchschnittsdeutsche hat nichts Entsprechendes.

Nur eine bestimmte Bildungsschicht – nicht gar zu klein, aber doch natürlich eine Minderheit – fand und findet ähnliche Lebensinhalte und Lebensfreuden in Büchern und Musik, eigenem Denken und dem Bilden einer eigenen »Weltanschauung«. Gedankenaustausch, nachdenkliches Gespräch beim Glase Wein, treu und etwas sentimental bewahrte und gepflegte wenige Freundschaften, schließlich, nicht zu vergessen, ein inniges und intensives Familienleben – das sind die Lebensgüter und –

freuden, die in dieser Schicht zu Hause waren. Fast alles davon war in der Dekade 1914–24 in Unordnung und Verfall geraten, und die Jüngeren wuchsen in keine feste Gewohnheit und Überlieferung hinein.

Jenseits der Bildungsschicht heißt und hieß die große Gefahr des Lebens in Deutschland immer: Leere und Langeweile. (Ausgenommen vielleicht in gewissen geographischen Randgebieten: Bayern, Rheinland – wo etwas Süden, Romantik und Humor ins Bild kommen.) Über den großen Flächen Nord– und Ost–Deutschlands, in seinen farblosen Städten, hinter seinen allzu fleißig, gründlich und pflichtbewußt betriebenen Geschäften und Organisationen droht und drohte immer der Stumpfsinn.

Und zugleich der horror vacui und der Wunsch nach »Erlösung«: Erlösung durch Alkohol, durch Aberglauben oder, am besten, durch einen großen, alles überschwemmenden, billigen

Massenrausch.

Dieser Grundtatbestand, daß in Deutschland nur eine Minderheit (die sich übrigens weder mit der Aristokratie noch mit dem »Besitz« deckt) etwas vom Leben versteht und etwas mit dem Leben anzufangen weiß – nebenbei gesagt, ein Tatbestand, der Deutschland grundsätzlich ungeeignet zur demokratischen Regierungsweise macht – dieser Grundtatbestand hatte durch die Ereignisse von 1914 bis 1924 eine furchtbar bedrohliche Zuspitzung erfahren. Die ältere Generation war in ihren Idealen und Vorstellungen unsicher und schüchtern geworden; man begann abdankungslüstern auf

»die Jugend« zu blicken, sie zu umschmeicheln und Wunder von ihr zu erwarten. Diese Jugend selbst kannte nichts als öffentlichen Lärm, Sensation, Anarchie und den gefährlichen Reiz

unverantwortlicher Zahlenspiele. Sie wartete nur darauf, das alles in noch größerem Stil, als man es ihr vorgemacht hatte, selber veranstalten zu können, und fand inzwischen alles private Leben

»langweilig«, »bürgerlich« und »vorgestrig«. Die Massen waren gleichfalls an alle Sensationen der Unordnung gewöhnt – und übrigens in ihrem letzten großen Aberglauben, dem pedantisch und orthodox zelebrierten Glauben an die Wunderkraft des allwissenden St. Marx und die

Unvermeidlichkeit der von ihm prophezeiten automatischen Entwicklung schwach und wankend geworden.

So lag, unter der Oberfläche, bereits alles bereit für ein großes Unheil.

Inzwischen aber herrschte in der sichtbaren öffentlichen Welt durchaus goldener Friede, Windstille, Ordnung, Wohlwollen und guter Wille. Selbst die Vorboten des kommenden Unheils schienen durchaus in das freundliche Bild zu passen.

12

Einer dieser Vorboten, der durchaus mißverstanden und gar noch öffentlich gefördert und belobigt wurde, war der Sportfimmel, der in jenen Jahren die deutsche Jugend ergriff.

In den Jahren 1924, 25 und 26 entwickelte sich Deutschland schlagartig zu einer Sportgroßmacht.

Nie vorher war Deutschland ein Sportland gewesen, nie ist es im Sport eigentlich schöpferisch und erfinderisch gewesen, wie England und Amerika, und der eigentliche Geist des Sports, das selbstvergessen–spielerische Aufgehen in einer Phantasiewelt mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen, ist der deutschen Seelenverfassung ganz fremd. Dennoch verzehnfachten sich in jenen Jahren auf einmal die Mitgliederzahlen der Sportclubs und die Zuschauerzahlen der Sportfeste.

Boxer und Hundertmeterläufer wurden zu Volkshelden, und die Zwanzigjährigen hatten den ganzen Kopf voll von Rennergebnissen, Namen und jenen Zahlenhieroglyphen, in die sich in den Zeitungen bestimmte Schnelligkeits– und Gewandtheitsleistungen verwandeln.

Es ist der letzte große deutsche Massenwahn, dem ich selbst miterlegen bin. Zwei Jahre lang stand mein geistiges Leben fast still, und ich trainierte verbissen Mittel– und Langstreckenlauf und hätte meine Seele unbedenklich dem Teufel dafür verkauft, ein einziges Mal 800 Meter unter 2 Minuten zu laufen. Ich ging zu jedem Sportfest, und ich kannte jeden Läufer und die beste Zeit, die er laufen konnte, nicht zu reden von der Liste der deutschen und Weltrekorde, die ich im Schlafe hätte herunterschnurren können. Die Sportberichte spielten eine Rolle wie vor zehn Jahren die Heeresberichte, und was damals Gefangenenzahlen und Beuteziffern gewesen waren, das waren jetzt Rekorde und Rennzeiten. »Houben läuft 100 Meter in 10,6«, das löste genau dieselben Empfindungen aus wie seinerzeit »20 000 Russen gefangen«, und »Peltzer gewinnt die englische Meisterschaft in Weltrekordzeit« entsprach sogar Ereignissen, zu denen es, ach, im Kriege nie gekommen war, etwa »Paris genommen« oder »England bittet um Frieden«. Ich träumte Tag und Nacht davon, es den Peltzer und Houben gleichzutun. Ich versäumte kein Sportfest. Ich trainierte dreimal in der Woche, ich hörte auf zu rauchen und machte statt dessen Freiübungen vor dem Schlafengehen. Und ich empfand das volle Glück, mich dabei mit Tausenden, Zehntausenden, ja eigentlich mit allen in voller Übereinstimmung zu befinden. Es gab keinen Altersgenossen, mochte er noch so fremd, noch so ungebildet, noch so unsympathisch sein, mit dem ich mich nicht sofort beim ersten Sehen glänzend und stundenlang unterhalten konnte – über Sport natürlich. Alle hatten dieselben Zahlen im Kopf. Alle dachten sich, unausgesprochen und selbstverständlich, dasselbe dabei. Es war fast so schön, wie es im Kriege gewesen war. Es war noch einmal dasselbe große Spiel. Wir verstanden uns alle ohne jede Verständigung. Unseres Geistes Nahrung waren Zahlen, und unsere Seele zitterte ständig vor Spannung: Würde Peltzer auch Nurmi schlagen können?