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Würde Körnig 10,3 erreichen? Würde endlich ein deutscher 400–Meter–Läufer unter 48 kommen?

Und mit den Gedanken ganz bei unseren »deutschen Meistern« auf den internationalen Sportfeldern, trainierten wir und liefen unsere eigenen kleinen Rennen, wie wir im Kriege auf den Spielplätzen und Straßen, mit den Gedanken ganz bei Hindenburg und Ludendorff, auf Spielplätzen und Straßen mit Teschings und Holzsäbeln unsere eigenen kleinen Schlachten geschlagen hatten. Welch leichtes, welch aufregendes Leben!

Das Komische ist, daß die Politiker von rechts bis links dieser auffallenden anfallsweisen Massenverblödung der Jugend nicht Lob genug zu spenden wußten. Nicht genug, daß wir wieder einmal dem alten Laster unserer Generation frönen konnten, dem Rauschgift des kalten, wirklichkeitsentblößten Zahlenspiels: Wir taten es diesmal unter der konzentrierten Aufmerksamkeit und dem einmütigen Beifall unserer Erzieher. Die »Nationalen«, dumm und plump wie immer, fanden, wir hätten mit gesundem Instinkt einen prächtigen Ersatz für die fehlende

Militärdienstpflicht entdeckt. Als ob es irgendeinem von uns auf die »körperliche Ertüchtigung«

angekommen wäre! Die »Linken«, überschlau und daher im Ergebnis fast noch dümmer als die

»Nationalen« (wie immer), hielten es für eine großartige Erfindung, daß von nun an die kriegerischen Instinkte auf dem friedlichen grünen Rasen mit Rennen und Freiübungen »abreagiert« würden, und sahen den Weltfrieden gesichert. Es fiel ihnen nicht auf, daß die »deutschen Meister« sich ausnahmslos schwarz–weiß–rote Schleifchen ansteckten, obwohl die Reichsfarben damals schwarz–rot–gold waren. Sie kamen nicht auf die Idee, daß der Reiz des Kriegsspiels, die alte Figur des großen, spannenden Wettkampfs der Nationen, hier nur geübt und wachgehalten wurde –

keineswegs »kriegerische Instinkte« »abreagiert«. Sie sahen die Verbindung nicht und nicht den Rückfall.

Der einzige, der anscheinend ein Gefühl dafür hatte, daß die Kräfte, die er freigesetzt hatte, einen falschen und gefährlichen Weg einschlugen, war Stresemann selber. Er machte gelegentlich befremdliche Bemerkungen über die »neue Bizeps–Aristokratie«, die zu seiner Unpopularität beitrugen. Er mochte eine Ahnung davon haben, was sich hier zeigte: daß die blinden Kräfte und Süchte, denen er die Züge zur Politik verstopft hatte, nicht etwa tot waren; daß sie sich sofort irgendein Ventil suchten. Daß die Generation, die »dran war«, sich weigerte, ehrlich und menschlich leben zu lernen, und daß sie jede Freiheit nur zu irgendeinem kollektiven Unfug benutzte.

Im übrigen hielt die Sportkrankheit als Massenerscheinung nur etwa drei Jahre vor. (Ich persönlich überwand sie noch schneller.) Zu einem längeren Leben fehlte ihr die Vorstellung von dem, was im Kriege »der Endsieg« gewesen war: ein Ziel und ein Ende. Es war im Grunde immer dasselbe: dieselben Namen, dieselben Zahlen, dieselben Sensationen. Es konnte endlos so weiter gehen. Aber es konnte nicht endlos die Phantasie beschäftigen. Obwohl Deutschland bei der Amsterdamer Olympiade von 1928 den zweiten Platz besetzt hatte, trat unmittelbar danach merkliche Enttäuschung und Abkühlung ein. Die Sportberichte verschwanden wieder von den Frontseiten der Zeitungen und kehrten in den Sportteil zurück. Die Sportplätze wurden leerer. Es war nicht mehr ohne weiteres sicher, daß jeder Zwanzigjährige die letzte »Zeit« jedes Hundertmeterläufers parat im Kopfe hatte. Es gab sogar wieder welche, die nicht einmal die Weltrekorde auswendig wußten.

Aber zugleich begannen jene »Bünde« und Parteien, in denen Politik als Sport getrieben wurde und die ein paar Jahre lang fast tot gewesen waren, langsam, langsam wieder aufzuleben.

13

Nein, eine »große Zeit« war die Stresemannzeit nicht. Sie war kein voller Erfolg, nicht einmal, solange sie dauerte. Zuviel Unheil grollte unter der Oberfläche, zuviel dämonisch böse Kräfte blieben im Hintergrund fühlbar, zwar gebunden und stumm gemacht für den Augenblick, aber nicht wirklich ausgelöscht. Und kein großes Zeichen wurde aufgerichtet, das die Dämonen bannen konnte. Die Zeit blieb ohne Pathos, ohne Größe, ohne volle Überzeugung von der eigenen Sache. Eine schüchterne Restaurationsepoche. Die alten, bürgerlich–patriotischen, friedlich–liberalen Anschauungen waren noch einmal in Geltung gesetzt – aber mit einer deutlichen Geste von Platzhalterschaft und Lückenbüßertum, von »faute de mieux« und »bis auf weiteres«. Keine Epoche, um später als »große Vergangenheit« einer trüben Gegenwart entgegengestellt zu werden.

Und doch ...

Talleyrand hat gesagt, wer nicht vor 1789 gelebt habe, habe die Süßigkeit des Lebens nie gekannt.

Ältere Deutsche haben ähnliche Aussprüche mit Bezug auf die Zeit vor 1914 getan. Es würde ein wenig lächerlich klingen, wollte man etwas so Radikales über die Stresemannzeit sagen. Aber wie auch immer, für uns jüngere Deutsche ist sie, mit all ihren Schwächen, die beste gewesen, die wir erlebt haben. Und was wir überhaupt an Süßigkeit des Lebens erfahren haben, verbindet sich mit ihr. Es war die einzige Zeit, in der die Grundtonart des Lebens einmal nicht Moll, sondern ein, wenn auch etwas zages und verwaschenes, Dur war. Es war die einzige Zeit, in der man überhaupt eigentlich leben konnte. Die meisten, wie schon erzählt, wußten nichts damit anzufangen oder scheiterten daran. Für uns andere knüpft sich doch das Beste, wovon wir zehren, an diese Zeit.

Es ist schwer, von Dingen zu reden, die sich nie entfaltet haben, von Ansätzen, die im Stadium des

»Vielleicht« und »Beinahe« stecken blieben. Und doch will mir scheinen, als ob damals in Deutschland, zwischen viel Unheildrohendem und außermenschlich Bösem, auch einiges Rare und Köstliche sich zu entwickeln begann. Der größere Teil der aufsteigenden Generation war unheilbar verdorben. Die übrigbleibende Minderheit aber trug vielleicht mehr Verheißung als irgendeine Generation der letzten hundert Jahre. Die wüste Dekade von 1914 bis 1923 hatte allen Halt und alle Tradition weggeschwemmt, aber auch allen Muff und alles Gerümpel. Die meisten fanden sich danach als haltlose Zyniker wieder. Die aber überhaupt wieder leben lernten, lernten es gleichsam in einer Klasse für Vorgeschrittene – jenseits der Illusion und Torheiten, mit denen sich eine eingesperrte Jugend nährt. Wir waren manchen Winden ausgesetzt gewesen, aber dafür nicht eingesperrt; wir waren verarmt, auch an geistigen Traditionswerten, aber dafür auch befreit von ererbten Vorurteilen; wir waren abgebrüht und abgehärtet. Entgingen wir der Gefahr der Verhärtung

– die Gefahr der Verweichlichung drohte uns nicht. Entgingen wir dem Zynismus – wir brauchten nicht zu fürchten, parsifalhafte Schwärmer zu werden. Bei den Besten der deutschen Jugend von 1925 bis 1930 bereitete sich damals in aller Stille etwas sehr Schönes, sehr Zukunftsträchtiges vor: ein neuer Idealismus jenseits des Zweifels und der Enttäuschung; eine zweite Liberalität, die weiter, umfassender und reifer war als der politische Liberalismus des 19. Jahrhunderts; ja, vielleicht sogar die Grundlagen einer neuen Vornehmheit, einer neuen Aristie, einer neuen Ästhetik des Lebens. Das alles war noch weit davon entfernt, Wirklichkeit und Macht zu werden; es war noch kaum Gedanke und Wort geworden, als die Quadrupeden kamen und alles zertrampelten.