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Es war damals, trotz allem, viel frische Luft in Deutschland zu spüren und eine bemerkenswerte Abwesenheit der konventionellen Lüge. Die Schranken zwischen den Klassen waren dünn und brüchig geworden – vielleicht ein segensvolles Nebenergebnis der allgemeinen Verarmung. Viele Studenten waren nebenbei Arbeiter – und viele junge Arbeiter nebenbei Studenten. Klassendünkel und Stehkragengesinnung waren einfach unmodern geworden. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren offener und freier als je – vielleicht ein segensvolles Nebenergebnis der langen Verwilderung. Wir hatten schon nicht einmal mehr verächtliche Überlegenheitsgefühle, sondern nur noch staunendes Mitleid für jene Generationen, die in ihrer Jugend nur unerreichbare Jungfrauen zum Anschwärmen und Huren zum Abreagieren vorgefunden hatten. Schließlich begann sogar in den Beziehungen zwischen den Nationen eine neue Möglichkeit aufzudämmern, eine größere Unbefangenheit, ein größeres Interesse füreinander und eine ausgesprochene Freude an der Buntheit, die die Welt dadurch bekam, daß es so viele Völker gibt. Berlin war damals eine ziemlich internationale Stadt. Und freilich gab es im Hintergrund, mit tiefem Ekel von »uns« wahrgenommen, immer schon damals jene düsteren Nazi–Typen, die mordblickend von »östlichem Geschmeiß«

redeten oder naserümpfend von »Amerikanisierung«; aber »wir« – ein undefinierbarer Teil der deutschen Jugend, der sich erkannte, wo er sich begegnete – waren nicht nur fremdenfreundlich, sondern fremdenenthusiastisch: Wieviel interessanter, schöner und reicher wurde das Leben, dadurch, daß es nicht nur Deutsche gab! Unsere Gäste waren uns alle willkommen, gleichgültig ob sie freiwillig kamen, wie die Amerikaner und Chinesen, oder als Vertriebene, wie die Russen. Es herrschte Aufgeschlossenheit, liebevoll–neugieriges Wohlwollen, ein bewußter Vorsatz, gerade das Fremdeste verstehen und lieben zu lernen; manche Freundschaft, manche Liebe knüpfte sich damals mit dem fernsten Osten und dem fernsten Westen.

Für mich verbinden sich meine köstlichsten und geliebtesten Erinnerungen mit einem solchen heimatlich–internationalen Kreis, einem Stück Globus mitten in Berlin. Es war ein kleiner akademischer Tennisclub, in dem wir Deutschen kaum stärker vertreten waren als andere Nationen.

Franzosen und Engländer waren seltsamerweise rar, aber sonst war der ganze Erdball bei uns vertreten: Amerikaner und Skandinavier, Balten und Russen, Chinesen und Japaner, Ungarn und Balkanleute, sogar ein witzig–melancholischer Türke fehlte nicht. Nie habe ich wieder eine so gelöste, jugendlich–offene Atmosphäre gefunden – es sei denn, als flüchtiger Gast, im Pariser Quartier Latin. Die tiefste Wehmut ergreift mich, wenn ich an die Sommerabende denke, die wir nach den Spielen, oft tief in die Nächte hinein, im Clubhaus verbrachten, noch in unsern Tennishosen in Korbsesseln sitzend, bei Wein und Scherzen, bei langen eifrigen Gesprächen, die so gar nichts von den bohrenden politischen Diskussionen der früheren und der späteren Jahre hatten, und die wir manchmal unterbrachen, um eine Partie Ping–Pong zu spielen oder um das Grammophon in Gang zu setzen und zu tanzen. Wieviel Harmlosigkeit und jugendlicher Ernst, welche Zukunftsträume, wieviel Aufgeschlossenheit, Weltfreundlichkeit und Vertrauen! Ich muß mich an die Stirn fassen, wenn ich daran denke; ich weiß nicht, was heute schwerer zu begreifen ist: daß es dies einmal in Deutschland gegeben hat, vor kaum zehn Jahren – oder: daß dies so völlig, so spurlos weggewischt werden konnte, in kaum zehn Jahren.

Es ist auch dieser Kreis, in dem ich meine tiefste, nachhaltigste Liebeserfahrung erlebte. Ich glaube, sie gehört in diesen Zusammenhang, weil sie eine überpersönliche Seite hat. Es ist gewiß eine romantische Lüge – wenn auch eine, die im vorigen Jahrhundert weiteste Popularität genoß – daß man »nur einmal wirklich liebe«, und es ist auch ziemlich müßig, unter allen unvergleichbaren Liebeserlebnissen Rangordnungen zu machen und zu sagen: »Die oder die habe ich am meisten geliebt«. Aber etwas anderes ist wahr: daß es einmal, meist um das zwanzigste Jahr herum, einen Zeitpunkt im Leben gibt, in dem das Liebeserlebnis und die Liebeswahl mehr als sonst schicksal–

und charakterbestimmend wird; in dem man in einer Frau etwas anderes liebt als eben nur diese Frau: nämlich einen ganzen Weltaspekt, eine ganze Lebenskonzeption – wenn man wilclass="underline" ein Ideal; aber ein lebendig gewordenes, in Fleisch und Blut wandelndes Ideal. Es ist das Vorrecht der Zwanzigjährigen – und auch nicht aller – einmal in einer Frau das zu lieben, was später der Mann als seinen Stern empfinden wird.

Heut muß ich abstrakte Ausdrücke suchen, um zu beschreiben, was ich auf der Welt liebe, was ich auf der Welt um jeden Preis bewahrt sehen will, und was man nicht verraten darf, man sterbe denn des ewigen Feuers: Freiheit und menschliche Klugheit, Mut, Grazie, Witz und Musik – und ich weiß nicht einmal, ob man mich versteht. Damals brauchte ich nur einen Namen für dasselbe auszusprechen, einen Kosenamen sogar: Teddy, und ich konnte sicher sein, daß wenigstens in unserm Kreise jeder mich verstehen würde. Wir liebten sie alle, die Trägerin dieses Namens, eine kleine Österreicherin, honigblond, sommersprossig, beweglich wie eine Flamme, und wir lernten und verlernten um ihretwillen die Eifersucht, wir erlebten Komödien und kleine Tragödien und wir empfanden Hymnen und Dithyramben ihretwegen, und wir erfuhren, daß das Leben schön wird, wenn man es mit Mut und Klugheit führt, mit Grazie und Freiheit, wenn man auf seinen Witz zu lauschen versteht und auf seine Musik. Wir hatten, in unserm Kreis, eine Göttin. Die Frau, die damals Teddy hieß, mag inzwischen älter und menschlicher geworden sein, und keiner von uns mag auf der Höhe seines damaligen Gefühls geblieben sein: daß es sie einmal gab und dies Gefühl einmal gab, ist nicht auszulöschen. Es formte uns mächtiger und nachhaltiger als irgendein

»historisches Ereignis«.

Teddy schwand früh aus unserm Kreis, wie es Göttinnen pflegen. Schon 1930 ging sie fort, nach Paris, schon damals mit dem Vorsatz, nicht umzukehren. Sie war vielleicht die erste Emigrantin. Sie spürte, ahnungsvoller und empfindlicher als wir, schon längst vor Hitler das Anwachsen und Bedrohlichwerden des Dummen und Bösen in Deutschland. Einmal im Sommer kam sie noch alljährlich zu Besuch zurück und fand die Luft jedesmal stickiger und schwerer zu atmen. Das letzte Mal kam sie 1933. Dann nicht mehr.

Schon lange vorher waren »wir« – dies unbestimmte »wir«, das keinen Namen hat, keine Partei, keine Organisation und keine Macht – eine Minderheit in Deutschland. Wir spürten es auch. Das selbstverständliche Gefühl des allgemeinen Verstehens, das die Zahlenspiele sei es des Krieges, sei es der Sportzeiten begleitet hatte, war längst in sein Gegenteil verkehrt: Wir wußten, mit vielen unserer Altersgenossen konnten wir kein Wort reden, weil wir eine andere Sprache sprachen. Wir fühlten um uns herum das »braune Deutsch« entstehen – »Einsatz«, »Garant«, »fanatisch«,

»Volksgenosse«, »Scholle«, »artfremd«, »Untermensch« – ein abscheuliches Idiom, das in jeder Vokabel eine ganze Welt von gewalttätiger Dummheit implizierte. Auch wir hatten unsere Geheimsprache. Wir verständigten uns über Menschen sehr kurz dahin, ob sie »klug« seien – was nicht hieß, daß ihre Intelligenz besonders gut arbeitete, sondern daß sie eine Ahnung davon hatten, was persönliches Leben heißt; also: zu »uns« gehörten. Wir wußten, daß die Dummen überwältigend in der Überzahl waren. Aber solange Stresemann da war, empfanden wir eine gewisse Sicherheit, daß sie in Schach gehalten waren. Wir bewegten uns unter ihnen mit der Sorglosigkeit, mit der die Menschen in einem modernen, käfiglosen Zoo zwischen den Raubtieren herumgehen, im Vertrauen darauf, daß die Gräben und Hecken alle gerade richtig berechnet sind. Die Raubtiere ihrerseits mochten ein entsprechendes Gefühl haben: Mit tiefem Haß prägten sie für die unsichtbare Ordnung, die sie bei aller Freiheit in Schranken hielt, ein vielsagendes Wort: »Das System«. Aber sie blieben in ihren Schranken.