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Brüning selbst hatte dem Lande nichts zu bieten als Armut, Trübsinn, Freiheitsbeschränkung und die Versicherung, daß etwas Besseres nicht zu haben sei. Allenfalls noch die Aufforderung zu einer stoischen Haltung. Aber er war eine zu karge Natur, um auch nur dieser Aufforderung eindrucksvolle Worte zu verleihen. Er warf keine Idee, keinen Appell ins Land. Er warf nur einen Schatten von Freudlosigkeit darüber.

Inzwischen sammelten sich geräuschvoll die Kräfte, die so lange brach gelegen hatten.

Am 14. September 1930 fanden jene Reichstagswahlen statt, in denen die Nazis mit einem Schlage von einer lächerlichen Splitterpartei zur zweitstärksten heraufschnellten, von 12 Mandaten auf 107.

Von diesem Tage an war die Mittelpunktsfigur schon der Brüningzeit nicht mehr Brüning, sondern Hitler. Die Frage hieß nicht mehr: Wird Brüning bleiben?, sondern: Wird Hitler kommen? Die quälenden und erbitterten politischen Diskussionen gingen nicht mehr darum, ob man für oder gegen Brüning, sondern: ob man für oder gegen Hitler sei. Und in den Vorstädten, wo das Schießen wieder anging, schossen sich nicht etwa die Brüninganhänger und Brüninggegner, sondern die Hitleranhänger und Hitlergegner tot.

Dabei mochte Hitlers Person, seine Vergangenheit, sein Wesen, sein Reden, zunächst eher ein Handicap für die Bewegung sein, die sich hinter ihm sammelte. In weiten Kreisen war er 1930 noch eine eher peinliche Figur aus grauer Vergangenheit: der Münchener Heiland von 1923, der Mann des grotesken Bierhausputsches. Zudem war seine persönliche Atmosphäre für den normalen Deutschen (nicht etwa nur für die »Klugen«) durchaus abstoßend: die Zuhälterfrisur; die Talmieleganz; der Wiener Vorstadtdialekt; das viele und lange Reden überhaupt, das

Epileptikergehaben dazu, die wilde Gestikulation, der Geifer, der abwechselnd flackernde und stierende Blick. Und dann der Inhalt der Reden: die Freude am Drohen, die Freude am Grausamen, die blutrünstigen Hinrichtungsphantasien. Die meisten der Leute, die ihm 1930 im Sportpalast zuzujubeln begannen, hätten es wahrscheinlich vermieden, sich von diesem Mann auf der Straße Feuer geben zu lassen. Aber hier zeigte sich bereits das Seltsame: die Faszination gerade des ganzen Widerlichen, Pfuhlhaften, triefend Eklen – wenn es auf die Spitze getrieben wird. Kein Mensch hätte sich gewundert, wenn dieses Lebewesen bei seiner ersten Rede von einem

Schutzmann am Kragen genommen und irgendwo abgestellt worden wäre, wo man nie wieder etwas von ihm sah und wohin es ohne Zweifel gehörte. Da nichts dergleichen geschah, da der Mensch sich im Gegenteil immer weiter steigerte, immer wahnsinniger und monströser und dabei nur immer berühmter und unübersehbarer wurde, schlug die Wirkung um: Die Faszination durch das Monstrum setzte ein; und zugleich das eigentliche Geheimnis des Falles Hitler, jene seltsame Benebelung und Betäubung der Gegner, die mit dem Phänomen einfach nicht fertig wurden und gleichsam unter der Wirkung eines Basiliskenblicks standen, unfähig zu erfassen, daß die personifizierte Unterwelt sie herausforderte.

Hitler, vor dem höchsten deutschen Gericht als Zeuge vorgeladen, brüllte in den Gerichtssaal, eines Tages werde er, streng legal, zur Macht kommen, und dann würden Köpfe rollen. Nichts geschah.

Der weißhaarige Senatspräsident kam nicht auf den Gedanken, den Zeugen abführen zulassen.

Hitler, im Reichspräsidentenwahlkampl mit Hindenburg, erklärte, dieser Kampf sei ohnehin für ihn gewonnen. Sein Gegner sei 85, er 43 Jahre alt; er könne warten. Nichts geschah. Als er es zum zweiten Male sagte, in der nächsten Versammlung, lachte das Publikum bereits wie gekitzelt. –

Sechs Sturmtruppleute, die einen »Andersdenkenden« eines Nachts in seinem Bett überfallen und buchstäblich totgetrampelt hatten, wurden dafür zum Tode verurteilt. Hitler sandte ihnen ein Telegramm mit Anerkennungs– und Belobigungsworten. Nichts geschah. Doch, es geschah etwas.

Die sechs Mörder wurden begnadigt.

Es war seltsam zu beobachten, wie sich dies gegenseitig steigerte: die wilde Frechheit, die den unangenehmen kleinen Hetzapostel allmählich zum Dämon wachsen ließ, die Begriffsstutzigkeit seiner Bändiger, die immer erst einen Augenblick zu spät erfaßten, was er eigentlich gerade gesagt oder getan hatte – nämlich, wenn er es durch ein noch tolleres dictum oder eine noch monströsere Tat gerade schon wieder in den Schatten gestellt hatte; und die Hypnose seines Publikums, das dem Zauber des Ekelhaften und dem Rausch des Bösen immer widerstandsloser erlag.

Hitler versprach im übrigen allen alles, und das brachte ihm selbstverständlich eine große, lose Gefolgs– und Wählerschaft von Urteilslosen, Enttäuschten und Verarmten ein. Das Entscheidende aber war nicht dies. Jenseits der bloßen Demagogie und der Programmpunkte versprach er, deutlich und fühlbar ehrlich, zweierlei: die Wiederherstellung des großen Kriegsspiels von 1914–18; und die Wiederholung des großen sieghaft–anarchischen Beutezuges von 1923. Mit anderen Worten: seine spätere Außenpolitik und seine spätere Wirtschaftspolitik. Er brauchte dies nicht wörtlich zu versprechen; er konnte ihm sogar scheinbar widersprechen (wie in den späteren »Friedensreden«): man verstand ihn doch. Und das schuf ihm seine wirklichen Jünger, den Kern der eigentlichen Nazipartei. Es appellierte an die beiden großen Erlebnisse, die sich der jüngeren Generation eingeprägt hatten. Es sprang als elektrischer Funke auf alle über, die heimlich diesen Erlebnissen nachhingen. Draußen blieben nur die, die gerade diese Erlebnisse abgeschrieben und innerlich mit einem negativen Vorzeichen versehen hatten. Also »wir«.

»Wir« aber hatten keine andere Partei, keine Fahne, der wir folgen konnten, kein Programm und keinen Kampfruf. Wem hätten wir folgen sollen? Außer den Nazis, den Favoriten, gab es jene zivilisierten bürgerlichen Reaktionäre, die sich um den »Stahlhehlm« sammelten, Leute, die sich ein wenig unklar für das »Fronterlebnis« und die »Scholle« begeisterten und zwar nicht die rasante Pöbelhaftigkeit der Nazis, aber durchaus ebenfalls ihre ganze ressentimentale Dumpfheit und inhärente Lebensfeindschaft besaßen. Es gab die längst vor dem Kampf geschlagenen, vielfach blamierten Sozialdemokraten, und es gab schließlich die Kommunisten mit ihrem sektiererischen Dogmatikerzug und dem Kometenschweif von Niederlage hinter sich. (Seltsam, die Kommunisten, was auch immer sie unternahmen, waren zum Schluß stets sie die Geschlagenen und auf der Flucht Erschossenen. Das schien ein Naturgesetz zu sein.)

Im übrigen gab es die sphinxhafte Reichswehr, geführt von einem intrigenfreudigen Bürogeneral, und die preußische Polizei, von der man hörte, sie sei ein guttrainiertes, zuverlässig republikanisches Machtinstrument. Man hörte es freilich, nach allen Erfahrungen, nicht ohne Mißtrauen.

Das waren die Kräfte im Spiel. Das Spiel selbst schleppte sich zäh und trübe hin, ohne Höhepunkte, ohne Dramatik, ohne sichtbare Entscheidungen. Die Atmosphäre in Deutschland erinnerte in vielem an die Atmosphäre in Europa heute: Gelähmtes Warten auf das Unentrinnbare, dem man doch bis zum letzten Augenblick zu entrinnen hofft. Was heute in Europa der kommende Krieg ist, war damals in Deutschland die kommende Machtergreifung Hitlers und die »Nacht der langen Messer«, von der die Nazis vorausschauend redeten. Selbst die Einzelheiten waren ähnlich: das langsame Näherkommen des Furchtbaren, die Zerfahrenheit der Abwehrkräfte, ihr hoffnungsloses Festhalten an den Spielregeln, die der Feind täglich brach, der einseitig geführte Krieg, der Schwebezustand zwischen »Ruhe und Ordnung« und »Bürgerkrieg« (es gab keine Barrikaden, aber es gab täglich sinnlose und kindische Schlägereien und Schießereien, Überfälle auf »Parteilokale« und ständig auch Tote). Es gab sogar schon damals die Denkfigur des »Appeasement«: Mächtige Gruppen waren dafür, Hitler »unschädlich zu machen«, indem man ihn »in die Verantwortung« zöge. Es gab ständige politische Diskussionen, unfruchtbar und erbittert, überalclass="underline" in den Cafés, in den Kneipen, in den Läden, in den Schulen, in den Familien. Es gab, nicht zu vergessen, wieder Zahlenspiele: Ständig fanden kleinere und größere Wahlen statt, und jetzt hatte jeder Stimmen und Mandatsziffern im Kopf. Die Zahlen der Nazis stiegen ständig. Was es nicht mehr gab, war Lebensfreude, Liebenswürdigkeit, Harmlosigkeit, Wohlwollen, Verständnis, Gutwilligkeit, Großzügigkeit und Humor.