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Es gab auch kaum mehr gute Bücher, und sicher keine Leute mehr, die sich dafür interessierten. Die Luft in Deutschland war rapide stickig geworden.

Bis zum Sommer 1932 wurde sie immer stickiger. Dann stürzte Brüning, grundlos und über Nacht, und es kam das seltsame Zwischenspiel Papen–Schleicher: eine Regierung von adligen Herren, von denen eigentlich niemand wußte, wer sie waren, und sechs Monate eines wilden politischen Husarenritts. Damals wurde die Republik liquidiert, die Verfassung außer Kraft gesetzt, der Reichstag aufgelöst, neugewählt, wieder aufgelöst und wieder neugewählt, Zeitungen verboten, die preußische Regierung entlassen, die ganze höhere Verwaltung umbesetzt – und dies alles ging in einer fast heiteren Atmosphäre letzten und äußersten Hazards vonstatten. Das Jahr 1939 schmeckt in ganz Europa sehr nach jenem deutschen Sommer 1932: Man war nun wirklich nur noch um Haaresbreite von dem Ende entfernt, das Gefürchtete konnte täglich eintreten; die Nazis füllten mit ihren jetzt endgültig erlaubten Uniformen schon alle Straßen, warfen schon Bomben, entwarfen schon Proskriptionslisten; schon verhandelte man, im August, mit Hitler, ob er nicht Vizekanzler werden wolle, und im November, nachdem sich Papen und Schleicher entzweit hatten, bot man ihm sogar die Kanzlerschaft an; zwischen Hitler und der Macht stand nichts mehr als das Spielerglück einiger adliger politischer Kavaliere, alle ernsthaften Hindernisse waren weggeräumt, keine Verfassung mehr, keine Rechtsgarantien, keine Republik, nichts, nichts, auch keine republikanische preußische Polizei mehr. So ist heute der Völkerbund versunken und die kollektive Sicherheit, der Wert der Verträge und der Sinn der Verhandlungen, so ist Spanien gefallen, Österreich und die Tschechoslowakei: Und doch breitete sich damals wie heute gerade im letzten, gefährlichsten, verlorensten Augenblick noch einmal ein kranker und seliger Optimismus aus, ein

Spieleroptimismus, ein heiteres Vertrauen, daß alles um Haaresbreite gut gehen würde. Waren nicht Hitlers Kassen leer? Sind nicht Hitlers Kassen leer? Waren nicht endlich selbst die ehemaligen Freunde Hitlers jetzt zum Widerstand entschlossen? Sind sie es nicht auch heute? War nicht noch einmal Bewegung und Leben in das erstarrte politische Bild gekommen – wie 1939 in Europa?

Damals, wie heute, begann man eben mit dem Gedanken zu spielen, das Schlimmste sei vorüber.

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Wir sind soweit. Die Anreise ist beendet. Wir sind am Kampfplatz. Das Duell kann beginnen.

DIE REVOLUTION

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Ich: das war Anfang 1933 ein junger Mann von 25 Jahren, gut ernährt, gut angezogen, gut erzogen, freundlich, korrekt, schon ein wenig abgeschliffen und geglättet, jenseits der eigentlichen schlenkrigen Studentenjugendlichkeit, aber im Ernst noch unausprobiert – ein Durchschnittsprodukt der deutschen bürgerlichen Bildungsschicht im Ganzen und im übrigen ein ziemlich

unbeschriebenes Blatt. Abgesehen davon, daß ich ständig vor einem ziemlich interessanten und dramatischen zeitgeschichtlichen Hintergrund gelebt hatte, hatte mein Leben bis dahin keine besonders interessanten und dramatischen Züge aufzuweisen. Die einzigen persönlichen Erlebnisse, die tiefer gegangen waren und bereits ein paar Narben, Erfahrungen, Charakterzüge hinterlassen hatten, waren jene lustvollen und schmerzlichen Experimente mit der Liebe, die jeder junge Mensch dieses Alters anstellt; sie interessierten mich damals noch tiefer als irgendetwas anderes; sie waren das eigentliche »Leben«. Im übrigen war ich – wiederum wie jeder junge Mensch meines Alters und meiner Klassenzugehörigkeit in Deutschland – noch ein Haussohn: gut ernährt und gut angezogen, aber aus Prinzip mit Taschengeld knapp gehalten von einem bedeutenden, alternden, interessanten, unbequemen aber heimlich geliebten Vater. Mein Vater war, wenn ich auch manchmal darüber nicht allzu erbaut war, damals durchaus die Hauptperson meines Lebens. Wollte ich etwas Ernsthaftes unternehmen oder entscheiden, so konnte ich nicht umhin, meinen Vater zu fragen. Will ich schildern, was ich damals war – oder besser: zu werden angelegt war, so kann ich noch heute nicht umhin, meinen Vater zu schildern.

Mein Vater war der Gesinnung nach ein Liberaler, der Haltung und Lebensführung nach ein preußischer Puritaner.

Es gibt eine spezifisch preußische Abart des Puritanismus, die vor 1933 eine der beherrschendsten Geistesmächte im deutschen Leben war und noch heute unter der Oberfläche eine gewisse Rolle spielt. Sie ist dem klassischen englischen Puritanismus verwandt, aber mit einigen

charakteristischen Unterschieden. Ihr Prophet ist Kant, nicht Calvin; ihr großes Beispiel ist Fridericus, nicht Cromwell. Wie der englische Puritanismus fordert der preußische Strenge, Würde, Enthaltsamkeit gegenüber den Freuden des Lebens, Pflichterfüllung, treu und Ehrenhaftigkeit bis zur Selbstverleugnung, Weltverachtung bis zur Düsterkeit. Wie der englische Puritaner gibt der preußische seinen Söhnen aus Prinzip wenig Taschengeld und runzelt die Brauen über ihre jugendlichen Experimente mit der Liebe. Aber der preußische Puritanismus ist säkularisiert. Er dient und opfert nicht Jehovah, sondern dem roi de Prusse. Seine Auszeichnungen und irdischen Belohnungen sind nicht private Reichtümer, sondern amtliche Würden. Und, was vielleicht das Wichtigste ist: der preußische Puritanismus hat eine Hintertür ins Freie und Unkontrollierte, an der das Wort »Privat« steht.

Der düstere Asket Fridericus, diese Denkmalfigur des preußischen Puritanismus, war bekanntlich

»privat« ein Flötenspieler, Versemacher, Freigeist und Freund Voltaires. Fast alle seine Jünger, diese hohen preußischen Bürokraten und Offiziere zweier Jahrhunderte, mit ihren streng

zusammengefalteten Gesichtern, waren privat etwas Ähnliches. Der preußische Puritanismus liebt die Figur »raube Schale – weicher Kern«. Der preußische Puritaner ist der Erfinder jener seltsamen deutschen Selbstaufstellung, die da spricht: »Als Mensch sage ich Ihnen... Aber als Beamter sage ich Ihnen ...« Er ist die Grundlage des bis heute von vielen Ausländern nie recht verstandenen Zustandes, daß Preußen – und Preußen–Deutschland – als Ganzes stets wie eine unmenschliche, grausam–gefräßige Maschine handelt und wirkt, aber im einzelnen, wenn man es besucht und mit den einzelnen Preußen und Deutschen »privat« in Fühlung kommt, oft einen durchaus

sympathischen, menschlichen, harmlosen und liebenswürdigen Eindruck macht. Deutschland führt als Nation ein Doppelleben, weil fast jeder einzelne Deutsche ein Doppelleben führt.

Mein Vater war »privat« ein leidenschaftlicher Literaturkenner und –liebhaber. Er hatte eine Bibliothek von einigen 10 000 Bänden, die er bis zu seinem Tode erweiterte und ausbaute, und die er nicht nur »hatte«, sondern gelesen hatte. Die großen Namen des europäischen 19. Jahrhunderts –

Dickens und Thackeray, Balzac und Hugo, Turgenjew und Tolstoj, Raabe und Keller (um nur seine Favoriten unter ihnen zu nennen) – für ihn waren sie nicht Namen, sondern intime Bekannte, mit denen er leidenschaftliche lange stumme Diskussionen gehabt hatte. Nie blühte er im Gespräch so auf, als wenn er jemand traf, mit dem er diese Diskussionen laut fortsetzen konnte.

Nun ist aber Literatur ein seltsames Hobby. Man kann wohl »privat« und ungestraft ein Sammler und Blumenzüchter, vielleicht sogar noch ein Bilder– und Musikkenner sein: Aber der tägliche Umgang mit dem lebendigen Geist bleibt nie »privat«. Es ist leicht vorzustellen, daß ein Mann, der jahrelang

»privat« alle Abgründe und Gipfel des europäischen Dichtens und Denkens durchmißt, eines Tages einfach unfähig wird, ein enger, strenger, pedantisch pflichtgetreuer preußischer Beamter zu sein.