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»Hilfspolizei« aus S.A.–Leuten gebildet.

Indes, wie gesagt, das waren Zeitungsnachrichten. Mit seinen Augen und Ohren sah und hörte man nicht viel anderes, als woran man ohnehin in den letzten Jahren gewöhnt worden war. Braune Uniformen in den Straßen, Aufmärsche, Heilrufe – und im übrigen Business as usual. Auf dem Kammergericht, dem höchsten preußischen Gericht, wo ich damals als Referendar arbeitete, änderte sich nichts im Justizbetrieb dadurch, daß der preußische Innenminister gleichzeitig tolle Erlasse herausgab. Die Verfassung mochte, laut Zeitungsnachrichten, zum Teufel gehen: Aber jeder einzelne Paragraph des Bürgerlichen Gesetzbuchs galt weiter und wurde so sorgfältig um– und umgedreht wie je zuvor. Wo lag die eigentliche Realität? Der Reichskanzler mochte täglich öffentlich wüste Schmähungen gegen die Juden ausstoßen – aber in unserm Senat saß nach wie vor ein jüdischer Kammergerichtsrat und machte seine überaus scharfsinnigen und gewissenhaften Urteile, und diese Urteile galten und setzten den vollen Staatsapparat zu ihrer Vollziehung in Aktion –

mochte auch die höchste Spitze dieses Staatsapparats ihren Verfasser täglich als »Parasiten«,

»Untermenschen« oder »Pest« bezeichnen. Wer war eigentlich der Blamierte dabei? Gegen wen richtete sich die Ironie dieses Zustandes?

Ich gestehe, ich neigte dazu, allein das ungestörte Weiterfunktionieren der Justiz, aber überhaupt alles ungestörte Weitergehen des Lebens wie einen Triumph über die Nazis zu empfinden: Mochten sie sich noch so laut und wild gebärden, seht doch, sie konnten höchstens die politische Oberfläche aufrühren – hier unten die ganze Meerestiefe des wirklichen Lebens blieb unberührt von ihnen.

Blieb sie ganz unberührt? Drang nicht schon damals etwas von den Wirbeln auf der Oberfläche bis hier herunter – in einer neuen zitternden Spannung, einer plötzlichen Unversöhnlichkeit und hitzigen Haßbereitschaft, die in die politischen Privatdiskussionen drang, überhaupt in diesem Stets–und–

ständig–an–Politik–denken–müssen? War es nicht schon eine seltsame Wirkung der Politik auf das Privatleben, daß man auf einmal jedes normale unpolitische Weiterleben wie eine politische Demonstration empfand?

Wie dem auch sei: Noch klammerte ich mich an dieses normale unpolitische Weiterleben. Es gab keine Stelle, von wo aus ich gegen die Nazis kämpfen konnte. Nun gut, so wollte ich mich wenigstens nicht im geringsten von ihnen stören lassen. Es mochte sogar mit einem gewissen Trotz geschehen, daß ich beschloß, nun gerade auf einen großen Faschingsball zu gehen, obwohl mir gar nicht besonders nach Fasching zumute war. Aber das wollen wir doch erst sehen, ob die Nazis dem Fasching etwas anhaben können – !

18

Der Berliner Fasching ist, wie so viele Berliner Einrichtungen, eine etwas künstliche, gemachte und ausgedachte Sache. Er hat kein skurril–geheiligtes Ritual, wie in den katholischen Zentren, er hat auch nicht das Spontane, Herzliche und Mitreißende des Münchener Faschings. Seine wesentlichen Merkmale sind, sehr berlinisch, »Betrieb« und »Organisation«. Ein Berliner Faschingsfest ist, sozusagen, eine große, bunte, glänzend organisierte Liebestombola, mit Glückslosen und Nieten: eine Gelegenheit, ein Mädchen zu greifen wie man ein Tombolalos greift, sie zu küssen und binnen einer Nacht alle Vorbereitungsstadien einer Liebesgeschichte mit ihr zu durchlaufen. Das Ende ist im allgemeinen eine gemeinsame Taxenfahrt im Morgengrauen und der Austausch zweier

Telefonnummern. Hiernach weiß man dann meistens, ob eine Geschichte gestartet ist, die hübsch zu werden verspricht, oder ob man sich nur gerade einen ehrlichen Katzenjammer verdient hat. Das Ganze spielt sich – und damit kommt der »Betrieb« zu seinem Recht – ab in einer überaus bunten und wilddekorierten Umgebung, unter dem Lärm durcheinanderspielender Tanzkapellen, unter großer Verschwendung von allen obligaten Faschingsutensilien wie Papierschlangen, Lampions usw., mit Hilfe von soviel Alkohol wie man bezahlen kann, und in der sardinenbüchsenhaft engen Umgebung von einigen tausend Leuten, die alle dasselbe tun und sich daher gegenseitig wenig genieren.

Der Ball, auf den ich damals ging, hieß aus irgendeinem Grund »Dachkahn«, wurde von irgendeiner Kunstschule veranstaltet, und war ein großer, lauter, bunter, überfüllter Ball wie alle diese Berliner Faschingsbälle. Es war am 25. Februar, einem Sonnabend. Ich kam ziemlich spät, und es war schon voller Betrieb, eine wimmelnde Fülle von bunten Seidenfetzen, nackten Schultern und nackten Mädchenbeinen, ein Gedränge, in dem man nicht von der Stelle kam, kein Platz an den Garderoben, kein Platz an den Buffets. Die Fülle gehörte zum »Betrieb«.

Ich kam nicht ganz in der richtigen Stimmung, im Gegenteil, ich war ein wenig niedergeschlagen, als ich kam. Ich hatte beunruhigende Gerüchte gehört diesen Nachmittag: Der Wahlkampf ginge nicht nach Wunsch; die Nazis planten einen Staatsstreich, Massenverhaftungen, Schreckensherrschaft; man müsse sich auf einiges gefaßt machen in den nächsten Wochen. Unbehaglich – obwohl natürlich wieder nur Zeitungsstoff. Die Wirklichkeit war hier, nicht wahr?, in diesen vorbeischwirrenden Stimmen, dem Gelächter, der Tanzmusik, dem freigiebig verschenkten Mädchenlächeln.

Aber plötzlich, während ich unschlüssig und abgelenkt auf irgendeiner Stufe stand und den ganzen Strudel um mich herumwogen sah – hitzige, glühende, eifrig lächelnde Gesichter, so massenhaft, ach und so harmlos, alle nur darauf aus, sich eine nette Freundin, einen netten Freund auszulosen, für eine Nacht oder für einen Sommer, einen Tropfen Lebenssüßigkeit, ein kleines Abenteuer, ein Erlebnis zum Sich–dran–erinnern – plötzlich überkam mich ein seltsames, schwindlig machendes Gefühclass="underline" als wäre ich mit allen diesen tausend bunt herausgeputzten jungen Leuten eingeschlossen in einem riesigen, unentrinnbaren, schwer schlingernden und rollenden Schiff, in dessen entlegenster, mauseloch–kleinster Kajüte wir noch tanzten, während oben auf der Brücke gerade schon beschlossen war, diesen ganzen Schiffsteil zu überfluten und uns alle zu ersäufen, Mann und Maus.

Dann schob sich ein Arm von hinten unter meinem Arm, ich hörte eine nette bekannte Stimme, und ich kehrte – ja, wohin? Sagen wir also: in die Wirklichkeit – zurück. Es war eine alte Bekannte aus glücklichen Tenniszeiten, ein Mädchen namens Lisl, lange aus den Augen verloren, fast vergessen, nun also plötzlich wieder da, altbekannt und freundlich, sehr trost– und scherzbereit. Sie stellte sich resolut zwischen mich und meine schwarzen Gedanken, verdeckte mir mit ihrer kleinen, standfesten Person Gott, die Welt und die Nazis und führte mich zurück auf den Pfad meiner Faschingspflicht.

Binnen einer Stunde war ich verkuppelt, mein Lotterielos war gezogen: ein kleines schwarzes Mädchen, gekleidet wie ein Türkenknabe, sehr zierlich anzusehen, große braune Frauenaugen im Gesicht. Flüchtig betrachtet, erinnerte sie ein wenig an die Schauspielerin Elisabeth Bergner. Das war auch ihr Ehrgeiz; es war der Ehrgeiz jedes Berliner Mädchens damals. Man durfte sich nichts besseres wünschen.

Lisl, mit aufmunterndem Winken, verlor sich im Gewühl, und das Bergnermädchen wurde meine Freundin für diese Nacht. Nicht nur für diese Nacht, für eine ganze elende Zeit, die kommen sollte.

Keine ganz glückliche Freundschaft, aber was wußte ich davon jetzt! Sie war leicht wie eine Feder, sie lag angenehm im Arm beim Tanzen; sie sprach altklug mit einer kleinen hohen Stimme, sie machte, mit einem gewissen trocken–spröden berlinischen Charme, kleine freche Scherze und bekam dabei Lichter in ihre großen Augen, die älter waren als ihr Gesicht. Sie war reizend genug, ich war zufrieden mit meinem Lose. Eine Weile tanzten wir, dann gingen wir irgendwann etwas zusammen trinken, dann gingen wir spazieren, und irgendwo in einem kleinen Raum, wo die Tanzmusik nur gedämpft hereinlärmte, ließen wir uns nieder, versuchten, unsere Namen zu erraten, und zogen es schließlich vor, uns welche zu geben. Sie taufte mich »Peter«. Ich taufte sie »Charlie«.