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So die Zeitungen. Die Straßen sahen genau so aus wie an gewöhnlichen Tagen. Die Kinos spielten, die Gerichte sprachen Recht. Revolution? Keine Spur. In den Wohnungen saßen die Leute, ein wenig verwirrt, ein wenig verängstigt, und versuchten sich über alles klar zu werden. Schwer, schwer war das in der kurzen Zeit!

Also die Kommunisten hatten den Reichstag angezündet. Soso. Das war schon möglich, das war sogar sehr glaublich. Komisch freilich, weshalb gerade den Reichstag – ein leeres Haus, von dessen Abbrennen keiner etwas hatte. Nun, vielleicht hatte es wirklich ein »Fanal« für die Revolution sein sollen, und das »entschlossene Zupacken« der Regierung hatte die Revolution dann verhindert. So stand es in der Zeitung, und es ließ sich hören. Komisch allerdings auch, daß die Nazis sich gerade über den Reichstag so aufregten. Bis dahin hatten sie ihn immer »Quatschbude« genannt, und jetzt auf einmal war es wie eine Schändung des Allerheiligsten, daß ihn einer angezündet hatte. Nun ja, immer wie es gerade in den Kram paßt – das ist Politik, nicht wahr, Herr Nachbar? Davon verstehen wir Gott sei Dank nichts. Hauptsache, die Gefahr der kommunistischen Revolution ist nun vorüber, und wir können ruhig schlafen gehen. Gute Nacht.

Ernsthaft gesprochen: Das Interessanteste am Reichstagsbrand war vielleicht, daß die Beschuldigung der Kommunisten so gut wie allgemein geglaubt wurde. Selbst die Zweifler fanden es immerhin nicht ganz unmöglich. Daran waren die Kommunisten selbst schuld. Sie waren in den letzten Jahren eine starke Partei geworden, sie hatten stets und ständig mit ihrer »Bereitschaft«

gedroht, und eigentlich niemand traute ihnen zu, daß sie sich ohne Gegenwehr würden »verbieten«

und abschlachten lassen. Den ganzen Februar hindurch hatte man ein wenig »Augen links«

gestanden und auf den Gegenzug der Kommunisten gewartet. Nicht der Sozialdemokraten – von denen erwartete niemand mehr etwas, seit am 20. Juli 1932 Severing und Grzesinski mit der vollen Legalität und 80 000 Mann schwerbewaffneter Polizei im Rücken »der Gewalt« einer

Reichswehrkompagnie »gewichen« waren –; aber der Kommunisten. Die Kommunisten waren

entschlossene Leute mit finsteren Gesichtern, sie hoben die Faust zum Gruß, hatten Waffen –

jedenfalls schossen sie oft genug bei den üblichen Kneipenschießereien –, pochten fortgesetzt auf ihre Stärke und Organisation und waren sicher von Rußland aus belehrt, wie man »so etwas« macht.

Die Nazis ließen keinen Zweifel, daß sie ihnen ans Leben wollten: Also würden sie sich wehren. Das war eigentlich nur selbstverständlich. Man wunderte sich ohnehin, daß man von der Gegenwehr so lange nichts merkte.

Man brauchte sehr lange, um in Deutschland dahinterzukommen, daß die Kommunisten Schafe im Wolfspelz gewesen waren. Der Nazi–Mythos vom verhinderten kommunistischen Putsch fand einen Boden von Gläubigkeit, den die Kommunisten selbst präpariert hatten. Daß hinter ihren erhobenen Fäusten nichts gewesen war – wer hatte das wissen können? Es gibt heute noch Leute in Deutschland, die auf den Kommunistenschreck hereinfallen – alles der Kommunisten eigenes Werk.

Sehr viele sind es freilich jetzt nicht mehr. Die Blamage der deutschen Kommunisten hat sich allmählich ziemlich herumgesprochen. Selbst die Nazis ziehen dieses Register heute nicht mehr gern. Höchstens distinguierten Ausländern gegenüber; denen kann man immer noch alles vormachen.

Daß die meisten Deutschen damals, im Februar 1933, an die kommunistische Brandstiftung glaubten, kann man ihnen, scheint mir, nach alledem nicht übelnehmen. Was man ihnen

übelnehmen kann, und worin sich zum ersten Mal in der Nazizeit ihre schreckliche kollektive Charakterschwäche zeigte, ist, daß damit die Angelegenheit für sie erledigt war. Daß man ihnen, jedem einzelnen von ihnen, sein bißchen verfassungsmäßig garantierte persönliche Freiheit und Bürgerwürde wegnahm, nur weil es im Reichstag ein bißchen gebrannt hatte – das nahmen sie mit einer schafsmäßigen Ergebenheit hin, als müßte es so sein. Wenn die Kommunisten den Reichstag angesteckt hatten, war es doch ganz in der Ordnung, daß die Regierung »hart zupackte«! Am nächsten Morgen diskutierte ich diese Dinge mit ein paar Referendarkollegen. Alle waren sehr interessiert für die Täterschaftsfrage des Reichstagsbrandes, und mehr als einer äußerte seine augenzwinkernden Zweifel an der offiziellen Version. Aber keiner fand etwas Besonderes dabei, daß man in Zukunft seine Telefongespräche belauschen, seine Briefe öffnen und seinen Schreibtisch erbrechen durfte. »Ich empfinde es als persönliche Beleidigung«, sagte ich, »daß man mich verhindert, zu lesen welche Zeitung ich will – weil angeblich ein Kommunist den Reichstag angesteckt hat. Sie nicht?« Einer antwortete fröhlich und harmlos: »Nein. Wieso? Lasen Sie denn etwa bis jetzt den »Vorwärts« und »Die Rote Fahne«?«

– Am Abend des ereignisreichen Dienstags hatte ich drei Telefongespräche. Zuerst rief ich meine neue Freundin Charlie an und verabredete mich mit ihr. Ein wenig vielleicht aus echter Verliebtheit; aber weit mehr aus Trotz. Ich wollte mich nicht stören lassen. Nun gerade nicht! Außerdem war Charlie jüdisch.

Sodann rief ich eine Jiu–Jitsu–Schule an und fragte nach Prospekten und Bedingungen. Ich hatte das Gefühl, daß eine Zeit kam, wo man Jiu–Jitsu würde können müssen. (Bald darauf merkte ich freilich, daß die Zeit, wo Jiu–Jitsu noch half, schon vorüber war, und daß man sich vielmehr eine Art geistiges Jiu–Jitsu aneignen mußte.)

Und schließlich rief ich die gute Lisl an: nicht, um mich zu verabreden, nur um mich zu entschuldigen, daß ich sie auf dem Ball nicht mehr gesehen hatte, und zu fragen, »wie sie es überstanden hätte« – eine etwas berechtigtere Frage diesmal als für gewöhnlich.

Aber Lisl klang verweint am Telephon. Ich sei doch ein Justizmensch, sagte sie. Ob ich eine Ahnung hätte, was aus den Verhafteten von gestern nacht geworden sei? Ihre Stimme setzte aus, und dann fragte sie hart, ob sie wenigstens lebten. Sie war noch nicht an die Aufhebung des

Telephongeheimnisses gewöhnt.

Ihr Freund war unter ihnen – nicht irgendein Faschingsfreund, sondern der Mann, den sie liebte. Er war ein sehr bekannter linker Stadtarzt. Er hatte einen berühmt großartigen sozial–medizinischen Dienst in seinem Bezirk – einem Arbeiterviertel – organisiert, und er hatte Aufsätze veröffentlicht, in denen er für Straflosigkeit der Abtreibung bei sozialen Notständen eingetreten war. Er hatte auf der ersten Liste der Nazis gestanden.

Ich sprach Lisl noch ein paarmal in den nächsten Wochen. Es war nicht möglich, ihr zu helfen, und es wurde immer schwerer, ihr etwas Tröstliches zu sagen.

20

Was ist eine Revolution?

Staatsrechtler sagen: Die Änderung einer Verfassung mit anderen als den in ihr vorgesehenen Mitteln. Akzeptiert man diese dürre Definition, dann war die Nazi–«Revolution« vom März 1933 keine Revolution. Denn alles ging streng »legal« vor sich, mit Mitteln, die durchaus in der Verfassung vorgesehen waren, »Notverordnungen« des Reichspräsidenten zunächst und schließlich einem Beschluß, die unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt auf die Regierung zu übertragen, gefaßt von einer Zweidrittelmehrheit des Reichstages, wie sie für Verfassungsänderungen vorgesehen war.

Nun, das ist offensichtliche Spiegelfechterei. Aber wenn man die Sache sieht, wie sie wirklich war, bleiben immer noch Zweifel genug, ob das, was sich da im März abspielte, wirklich den Namen

»Revolution« verdient. Einfach vom Standpunkt des Common Sense aus scheint das Wesentliche an einer Revolution doch zu sein, daß Leute mit Gewalt die bestehende Ordnung und ihre Vertreter: Polizei, Militär usw. angreifen und besiegen. Das braucht nichts durchweg Begeisterndes und Herrliches zu sein, es kann mit Ausschreitung, Gewalttat, Pöbelbrutalität, Plünderung, Mord und Brand einhergehen. Was man von Leuten, die »Revolutionäre« sein wollen, immerhin erwarten muß, ist, daß sie angreifen, Mut zeigen, ihr Leben riskieren. Barrikaden sind vielleicht etwas Veraltetes, aber irgendeine Form von Spontaneität, Erhebung, Einsatz und Aufstand scheint doch wohl essentiell zu einer echten Revolution zu gehören.