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Der März 1933 enthielt nichts davon. Sein Geschehen war aus den seltsamsten Elementen zusammengebraut, aber das einzige, was völlig darin fehlte, war irgendeine Tat des Muts, der Tapferkeit und Hochherzigkeit von irgendeiner Seite. Vier Dinge brachte dieser März, als deren Ergebnis schließlich die unangreifbare Nazi–Herrschaft dastand: Terror; Feste und Deklamationen; Verrat; und schließlich einen kollektiven Kollaps – einen millionenfachen simultanen individuellen Nervenzusammenbruch. Viele, ja die meisten europäischen Staatswesen sind bluti ger geboren worden. Aber es gibt keins, dessen Entstehung in diesem Maße ekelhaft war.

Die europäische Geschichte kennt zwei Formen von Terror: Die eine ist der zügellose Blutrausch einer losgelassenen, siegestrunkenen revolutionären Masse; die andere ist die kalte, überlegte Grausamkeit eines siegreichen, auf Abschreckung und Machtdemonstration bedachten

Staatsapparats. Die beiden Formen sind, normalerweise, auf Revolution und Repression verteilt. Die erste ist die revolutionäre; sie nimmt ihre Entschuldigung aus der Erregung und der Wut des Augenblicks, aus dem Außersichsein. Die zweite ist die repressive; sie nimmt ihre Entschuldigung aus der Vergeltung der vorangegangenen revolutionären Greuel.

Den Nazis ist es vorbehalten geblieben, beides zu kombinieren in einer Weise, für die beide Entschuldigungen nicht gelten. Der Terror von 1933 wurde geübt von echtem, blutberauschtem Pöbel (nämlich der SA – die SS spielte damals noch nicht die Rolle wie später) – aber die SA trat dabei als »Hilfspolizei« auf, sie handelte ohne jede Erregung und Spontaneität und insbesondere ohne jede eigene Gefahr; vielmehr aus völliger Sicherheit heraus, befehlsgemäß und in strikter Disziplin. Das äußere Bild war revolutionärer Terror: Wilder unrasierter Mob, nächtlich in Wohnungen einbrechend und Wehrlose in irgendwelche Folterkeller schleppend. Der innere Vorgang war repressiver Terror: Kalte, genau berechnete, staatliche Anordnung und Lenkung und volle polizeiliche und militärische Deckung. Das Ganze geschah nicht aus dem Erregungszustand, der einem siegreichen Kampf folgt, einer großen überstandenen Gefahr – nichts dergleichen hatte stattgefunden; es geschah auch nicht zur Vergeltung irgendwelcher vorher von der Gegenseite verübter Greuel – es hatte keine gegeben. Was stattfand, war vielmehr einfach die albtraumhafte Umkehrung der normalen Begriffe: Räuber und Mörder als Polizei auftretend, bekleidet mit der vollen Staatsgewalt; ihre Opfer als Verbrecher behandelt, geächtet und im Voraus zum Tode verurteilt. Ein Beispielfall, der wegen der Ausmaße, die er annahm, in die Öffentlichkeit drang: Ein Cöpenicker sozialdemokratischer Gewerkschaftsfunktionär setzte sich mit seinen Söhnen gegen eine SA–Patrouille, die nachts in sein Haus einbrach, um ihn zu »verhaften«, zur Wehr, und erschoß in offensichtlicher Notwehr zwei SA–Leute. Darauf wurden zunächst, noch in der gleichen Nacht, er und seine Söhne von einer zweiten, stärkeren SA–Gruppe überwältigt und im Schuppen seines Hauses aufgehängt. Am nächsten Tag aber erschienen, befehlsgemäß und diszipliniert, SA–

Patrouillen in Cöpenick in den Wohnungen aller Einwohner, die als Sozialdemokraten bekannt waren, und erschlugen sie an Ort und Stelle. Die Zahl der Toten ist nie bekannt geworden.

Diese Art von Terror hatte den Vorteil, daß man je nachdem bedauernd die Achseln zucken und von

»unvermeidlichen traurigen Begleitumständen jeder Revolution« sprechen konnte – also die Entschuldigung des revolutionären Terrors – oder auch auf die strikte Disziplin hinweisen konnte und darlegen, daß vollkommene Ruhe und Ordnung herrschte, daß ausschließlich gewisse notwendige Polizeiaktionen stattfanden und daß revolutionäre Unordnung gerade dadurch von Deutschland ferngehalten würde – die Entschuldigung des repressiven Terrors. Beides geschah denn auch abwechselnd, je nach der Art des Publikums.

Diese Art der Publicity trug und trägt freilich weiter dazu bei, den Nazi–Terror abstoßender zu machen als irgendeinen sonst in der europäischen Geschichte bekannten. Selbst Grausamkeit kann einen Zug von Größe haben, wenn sie mit dem Pathos höchster offener Entschlossenheit geübt wird; wenn die, die sie verüben, lodernd zu ihren Taten stehen – wie es in der französischen Revolution, in den russischen und spanischen Bürgerkriegen der Fall war. Die Nazis, im Gegensatz dazu, zeigten nie etwas anderes als die scheue, feige und bleiche Fratze des leugnenden Mörders. Während sie systematisch Wehrlose folterten und mordeten, versicherten sie täglich in edlen und weichen Tönen, daß niemandem ein Haar gekrümmt würde, und daß nie eine Revolution so human und so unblutig vonstatten gegangen sei. Ja, wenige Wochen nach dem Einsetzen der Greuel wurde durch ein Gesetz jedem, der auch nur in seinen vier Wänden die Behauptung aufstellte, daß Greuel geschähen, strenge Strafe angedroht.

Selbstverständlich bezweckte das nicht, die Greuel wirklich geheimzuhalten. Dann hätten sie ja ihren Zweck, allgemein Furcht, Schrecken und Unterwerfung hervorzubringen, nicht erreichen können.

Vielmehr sollte die Terrorwirkung gerade durch das Geheimnis gesteigert werden und durch die Gefahr, die darin lag, auch nur darüber zu reden. Die offene Darstellung dessen, was in den SA–

Kellern und Konzentrationslagern geschah – etwa von der Rednertribüne herab oder in den Zeitungen –, hätte möglicherweise selbst in Deutschland verzweifelte Gegenwehr hervorgerufen. Die heimlich herumgeflüsterten schaudervollen Geschichten – »Seien Sie nur vorsichtig, Herr Nachbar!

Wissen Sie, was dem X passiert ist?« – brachen viel sicherer jedes Rückgrat.

Umso mehr, als man gleichzeitig vollkommen beschäftigt und abgelenkt wurde durch eine nicht abreißende Folge von Festen, Feiern und nationalen Weihestunden. Das begann bereits mit einer riesigen Siegesfeier vor den Wahlen, dem »Tag der nationalen Erhebung« am 4. März:

Massenaufmärsche und Feuerwerke, Trommeln, Kapellen und Fahnen über ganz Deutschland, Hitler aus Tausenden von Lautsprechern tönend, Schwüre und Gelöbnisse – alles, obwohl ja noch gar nicht feststand, ob nicht die Wahlen den Nazis vielleicht eine Schlappe bringen würden. Tatsächlich taten sie das: Diese Wahlen, die letzten, die je in Deutschland abgehalten wurden, brachten den Nazis nur 44 Prozent der Stimmen (vorher hatten sie 37 gehabt) – die Mehrheit wählte immer noch gegen sie. Wenn man bedenkt, daß der Terror schon in vollem Gange, daß den Linksparteien in der letzten entscheidenden Woche vor der Wahl bereits der Mund verboten war, muß man sagen, daß sich das deutsche Volk in seiner Masse noch ganz anständig gehalten hatte. Das war aber gar keine Störung. Die Niederlage wurde einfach wie ein Sieg gefeiert, der Terror verstärkt, die Feste verzehnfacht. Die Fahnen verschwanden jetzt für vierzehn Tage überhaupt nicht mehr aus den Fenstern, eine Woche später schaffte Hindenburg die alten Reichsfarben ab, und die

Hakenkreuzfahne wurde zusammen mit der schwarzweißroten »vorläufige Reichsflagge«. Und zugleich täglich Umzüge, Massenweihestunden, Dankkundgebungen für die nationale Befreiung, Militärmusik von früh bis spät, Heldenehrungen, Fahnenweihen, schließlich, als Höhepunkt, die bombastische Schmierenvorstellung des »Tages von Potsdam«, mit dem alten Verräter Hindenburg am Grabe Friedrichs des Großen, Hitler zum x–ten Male Treue zu irgendetwas gelobend, Glockengeläute, feierlicher Zug der Abgeordneten zur Kirche, Militärparade, gesenkte Degen, fähnchenschwenkende Kinder, Fackelzüge.