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Die ungeheuerliche Leere und Sinnentblößtheit dieser nicht abreißenden Veranstaltungen dürfte wiederum keineswegs unabsichtlich gewesen sein. Die Bevölkerung sollte eben daran gewöhnt werden, zu jubeln und sich zu erheben, auch ohne daß sie einen eigentlichen Grund dazu sah.

Grund genug, daß Leute, die allzudeutlich nicht mitmachten – psst! – alltäglich und allnächtlich mit Stahlpeitschen und Drillbohrern zu Tode gebracht wurden. Jubeln wir also und heulen wir mit den Wölfen, heil, heil! Außerdem kam man auf den Geschmack dabei. Der März 1933 brachte

wundervolles Wetter. War es nicht wirklich schön, festlich im Frühlingssonnenschein auf beflaggten Plätzen in hochgestimmten Mengen unterzutauchen und hehren Worten zu lauschen von Vaterland und Freiheit, Erhebung und heiligem Gelöbnis? (Besser jedenfalls, als unter Ausschluß der Öffentlichkeit in einer SA–Kaserne mit einem Wasserschlauch den Darm aufgepumpt zu

bekommen.)

Man begann mitzumachen – zunächst aus Furcht. Nachdem man aber einmal mitmachte, wollte man es nicht mehr aus Furcht tun – das wäre ja gemein und verächtlich gewesen. So lieferte man die zugehörige Gesinnung nach. Dies ist die seelische Grundfigur des Sieges der

nationalsozialistischen Revolution.

Freilich mußte noch etwas anderes hinzukommen, um ihn zu vollenden: das war der feige Verrat aller Partei– und Organisationsführer, denen sich die 56 Prozent Deutsche, die noch am 5. März 1933 gegen die Nazis wählten, anvertraut hatten. Dieser furchtbare und entscheidende Vorgang ist wenig ins historische Bewußtsein der Welt getreten: Die Nazis hatten kein besonderes Interesse daran, ihn hervorzuheben, weil er den Wert ihres »Sieges« beträchtlich herabmindern muß; und die Verräter selber – nun, sie hatten erst recht kein Interesse daran. Dennoch liefert nur dieser Verrat die letzte Erklärung für die zunächst unerklärlich scheinende Tatsache, daß ein großes Volk, das immerhin nicht nur aus Feiglingen besteht, widerstandslos der Schande verfallen konnte.

Der Verrat war durchgehend, allgemein und ausnahmslos, von links bis rechts. Daß die Kommunisten, hinter einer prahlerischen Façade von »Bereitschaft« und Bürgerkriegsvorbereitung, in Wahrheit nur die rechtzeitige Flucht ihrer höheren Funktionäre ins Ausland vorbereiteten, hatte ich schon erzählt.

Was die sozialdemokratische Führung betrifft, so hatte ihr Verrat an ihrer treuen und blind–loyalen Millionengefolgschaft von anständigen kleinen Leuten bereits am 20. Juli 1932 begonnen, als Severing und Grzesinski »der Gewalt wichen«. Den Wahlkampf von 1933 führten die

Sozialdemokraten bereits auf eine entsetzlich demütigende Weise, indem sie hinter den Parolen der Nazis herliefen und ihr »Auch–national–sein« betonten. Am 4. März, einen Tag vor der Wahl, fuhr ihr

»starker Wann«, der preußische Ministerpräsident Otto Braun, im Auto über die Schweizer Grenze; er hatte sich vorsorglich im Tessin ein Häuschen gekauft. Im Mai, einen Monat vor ihrer Auflösung, waren die Sozialdemokraten dann so weit, daß sie im Reichstag geschlossen der Regierung Hitler das Vertrauen aussprachen und das Horst–Wessel–Lied mitsangen. (Der Parlamentsbericht bemerkte: »Nichtendenwollender Beifall und Händeklatschen im Haus und auf den Tribünen. Auch der Reichskanzler, zu den Sozialdemokraten gewendet klatscht.«)

Das Zentrum, die große bürgerlich–katholische Partei, die in den letzten Jahren mehr und mehr auch das protestantische Bürgertum hinter sich gesammelt hatte, war bereits im März soweit. Es schuf durch seine Stimmen die Zweidrittelmehrheit, die der Regierung Hitler »legal« die Diktatur Übertrug.

Es handelte dabei unter Führung des einstigen Reichskanzlers Brüning. Dies ist im Ausland heute vielfach vergessen, und Brüning gilt dort vielfach noch als eine mögliche künftige Ablösung für Hitler.

Aber man glaube mir: In Deutschland ist es unvergessen, und ein Mann, der noch am 23. März 1933

glaubte, aus taktischen Gründen die ihm anvertraute Partei in einer vitalen Abstimmung Hitler zuführen zu dürfen, ist dort für immer unmöglich geworden.

Die Deutschnationalen schließlich, die konservativen Rechtskreise, die »Ehre« und »Heroismus«

geradezu als ihr Parteiprogramm vindizierten – o Gott, wie überaus ehrlos und feige war das Schauspiel, das ihre Führer ihren Anhängern im Jahre 1933 und seither vorführten! Nachdem sich die Erwartung des 30. Januar, daß sie die Nazis »eingefangen« hätten und »unschädlich machen«

würden, enttäuscht hatten, erwartete man wenigstens von ihnen, daß sie »bremsen« und »das Schlimmste verhüten« würden. Nichts da; sie machten alles mit, den Terror, die Judenverfolgungen, die Christenverfolgungen, ja sie ließen sich nicht dadurch stören, daß man ihre Partei verbot, ihre Anhänger verhaftete. Sozialistische Funktionäre, die ihre Wähler und Anhänger im Stich lassen und fliehen, sind, als Erscheinung, trübselig genug. Was aber soll man zu adligen Offizieren sagen, die zusehen, wie ihre nächsten Freunde und Mitarbeiter erschossen werden – wie der Herr von Papen –

und weiter im Amt bleiben und »Heil Hitler« rufen?!

Wie die Parteien, so die Bünde. Es gab einen »Kommunistischen Frontkämpferbund«, es gab ein

»Reichsbanner Schwarz–Rot–Gold«, militärisch organisiert, nicht ganz waffenlos, mit Millionen Angehöriger, ausdrücklich dazu bestimmt, im Notfall die SA in Schach zu halten. Man bemerkte die ganze Zeit über nichts von diesem »Reichsbanner«, überhaupt nichts, nicht das Geringste. Es verschwand spurlos, als wäre es nie dagewesen. Widerstand gab es in ganz Deutschland höchstens als individuelle Verzweiflungstat – wie bei jenem Gewerkschaftsmann aus Cöpenick. Die Reichsbanneroffiziere schwangen sich nirgends auch nur zu einer Spur von Gegenwehr auf, wenn ihre Verbandshäuser von der SA »übernommen« wurden. Der »Stahlhelm«, die Armee der

Deutschnationalen, ließ sich gleichschalten und später stückweise auflösen, murrend aber widerstandslos. Es gab nicht ein Beispiel von Verteidigungsenergie, Mannhaftigkeit, Haltung. Es gab nur Panik, Flucht und Überläuferei. Millionen waren im März 1933 noch kampfbereit. Sie fanden sich über Nacht führerlos, waffenlos und verraten. Ein Teil von ihnen suchte noch, verzweifelt, Anschluß beim »Stahlhelm« und bei den Deutschnationalen, als sich zeigte, daß die andern nicht kämpften. Deren Mitgliederzahlen schwollen ein paar Wochen lang unheimlich an. Dann wurden auch sie aufgelöst – und kapitulierten kampflos.

Dieses furchtbare moralische Versagen der gegnerischen Führung ist ein Grundzug der »Revolution«

vom März 1933. Es machte den Nazis den Sieg sehr leicht. Es stellt freilich auch den Wert und die Dauerhaftigkeit dieses Sieges in Frage. Das Hakenkreuz ist in die deutsche Masse nicht hineingeprägt worden wie in eine widerstrebende, aber dafür auch formfähige, feste Substanz, sondern wie in einen formlos–nachgiebigen, breiigen Teig. Der Teig mag ebenso leicht und widerstandslos eine andere Form annehmen, wenn der Tag kommt. Freilich besteht seit März 1933

die unbeantwortete Frage, ob es überhaupt lohnt, ihn zu formen. Denn die moralische

Wesensschwäche Deutschlands, die damals zutagegetreten ist, ist zu ungeheuerlich, als daß nicht die Geschichte eines Tages Konsequenzen aus ihr ziehen sollte.

Jede Revolution bei anderen Völkern hat, wieviel Blutverlust und momentane Schwächung sie immer mit sich bringen mochte, zu einer ungeheuren Steigerung aller moralischen Energien auf beiden kämpfenden Seiten geführt – und damit, auf lange Sicht, zu einer ungeheuren Stärkung der Nation.

Man betrachte die ungeheure Menge von Heldenmut, Todesverachtung und menschlicher Größe, die

– gewiß neben Ausschreitung, Grausamkeit und Gewalt – von Jakobinern wie Royalisten im revolutionären Frankreich, von Francoleuten wie von Republikanern im heutigen Spanien entfaltet worden ist! Wie immer der Ausgang sein mag – die Tapferkeit, mit der um ihn gerungen wurde, bleibt als unerschöpflicher Kraftquell im Bewußtsein der Nation. Die heutigen Deutschen haben an der Stelle, wo dieser Kraftquell entspringen müßte, nur die Erinnerung an Schande, Feigheit und Schwäche. Das wird unfehlbar eines Tages seine Wirkungen zeigen; sehr möglicherweise in der Auflösung der deutschen Nation und ihrer staatlichen Form.