Выбрать главу

Zwar schäumte und tobte ich in diesem März 1933. Zwar erschreckte ich meine Familie mit wilden Vorschlägen: den Staatsdienst zu quittieren; auszuwandern; demonstrativ zum Judentum überzutreten. Aber mit dem Aussprechen solcher Absichten war es jeweils noch getan. Mein Vater, aus der reichen, freilich diese neuen Vorgänge nicht bedeckenden Erfahrung eines Lebens, das sich zwischen 1870 und 1933 abgespielt hatte, wiegelte ab, entdramatisierte, suchte mein Pathos leise zu ironisieren. Ich ließ es zu. Schließlich war ich an seine Autorität gewöhnt und meiner selbst noch nicht sicher. Auch hat ruhige Skepsis auf mich immer überzeugender gewirkt als radikales Pathos, und ich habe eine ganze Weile gebraucht, um zu lernen, daß in diesem Fall mein erster jugendlicher Instinkt tatsächlich gegenüber der Erfahrungsweisheit meines Vaters recht hatte, und daß es Dinge gibt, denen man mit ruhiger Skepsis nicht beikommen kann. Damals war ich noch zu schüchtern, um aus meinen Gefühlen positive Konsequenzen zu ziehen.

Vielleicht, nicht wahr, sah ich die Dinge wirklich nicht richtig. Vielleicht mußte man sie wirklich durchstehen und vorüberrauschen lassen. Sicher und fertig fühlte ich mich nur im Amt, beschirmt von den Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozeßordnung. Sie standen noch.

Auch das Kammergericht stand noch. Sinnentleert wie sein Betrieb im Augenblick scheinen mochte, geändert hatte sich noch nichts daran. Vielleicht würde sich wirklich dies am Ende doch als das Bleibende und Stärkere erweisen.

Und so, unsicher, abwartend, die tägliche Routine weitererfüllend, Wut und Grauen herunterwürgend oder, sehr unfruchtbar und sehr komisch, in Ausbrüchen am häuslichen Eßtisch verströmend – so ausgeschaltet weiterlebend wie Millionen andere, ließ ich die Dinge an mich herankommen.

Sie kamen an mich heran.

22

Ende März fühlten die Nazis sich stark genug, um den ersten Akt ihrer wirklichen Revolution zu starten, jener Revolution, die sich nicht gegen irgendeine Staatsverfassung, sondern gegen die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde richtet, und die, wenn sie unbehelligt bleibt, ihre Höhepunkte immer noch vor sich hat. Ihr erster, schüchterner Akt war der Judenboykott vom 1. April 1933.

Er wurde am Sonntag zuvor von Hitler und Goebbels auf dem Obersalzberg bei Tee und Biskuits beschlossen. Am Montag hatte die Zeitung die seltsam ironische Überschrift: »Massenaktion angekündigt«. Vom Sonnabend, den 1. April ab, so hieß es, sollten sämtliche jüdischen Geschäfte boykottiert werden. SA–Posten sollten vor ihnen Aufstellung nehmen und verhindern, daß jemand sie betrat. Ebenso sollten alle jüdischen Ärzte und Anwälte boykottiert werden. SA–Patrouillen sollten in ihren Büros und Sprechzimmern kontrollieren, daß der Boykott durchgeführt wurde.

Die Begründung dieser Maßnahme ließ den Fortschritt ermessen, den die Nazis seit einem Monat gemacht hatten. Die Legende vom geplanten Kommunistenputsch, die man damals erzählt hatte, um die Verfassung und die bürgerliche Freiheit abzuschaffen, war noch eine gutkonstruierte, auf Glaubwürdigkeit bedachte Story gewesen; ja, sogar eine Art Augenscheinsbeweis zu konstruieren hatte man noch für nötig gehalten, indem man den Reichstag brennen ließ. Die offizielle Begründung des Judenboykotts dagegen war bereits eine freche Beleidigung und Verhöhnung derjenigen, denen man zumutete, so zu tun, als glaubten sie daran. Der Judenboykott sollte nämlich veranstaltet werden als Abwehr– und Vergeltungsmaßnahme gegen die jeder Grundlage entbehrenden

Greuelmärchen über das neue Deutschland, die von den deutschen Juden auf spitzfindige Weise ins Ausland lanciert würden. So, darum.

Andere Maßnahmen wurden in den nächsten Tagen zur Ergänzung angeordnet (einige davon wurden später wieder, zunächst, gemildert): Alle »arischen« Geschäfte hatten ihre jüdischen Angestellten zu entlassen. Dann: Auch alle jüdischen Geschäfte hatten dies zu tun. Die jüdischen Geschäfte hatten ihren »arischen« Angestellten Löhne und Gehälter weiterzuzahlen, während sie durch den Boykott geschlossen waren. Die jüdischen Geschäftsinhaber hatten sich überhaupt zurückzuziehen und

»arische« Geschäftsführer zu bestellen. Usw.

Zugleich setzte ein großer »Aufklärungsfeldzug« gegen die Juden ein. Die Deutschen wurden in Flugblättern, Plakaten und Massenversammlungen darüber aufgeklärt, daß sie einem Irrtum unterlegen seien, wenn sie die Juden bisher für Menschen gehalten hätten. Die Juden seien vielmehr »Untermenschen«, eine Art Tiere, aber zugleich mit den Eigenschaften von Teufeln. Welche Folgerungen daraus zu ziehen waren, blieb einstweilen unausgesprochen. Doch wurde immerhin als Schlachtruf und Parole die Aufforderung ausgegeben: »Juda verrecke!« Zum Leiter des Boykotts wurde ein Mann ernannt, dessen Namen die meisten Deutschen damals zum ersten Male lasen: Julius Streicher.

Alles dies erregte, was man den Deutschen nach den letzten vier Wochen kaum mehr zugetraut hätte: weitverbreiteten Schrecken. Ein gewisses Murmeln der Mißbilligung, unterdrückt aber hörbar, lief durch das Land. Feinfühlig merkten die Nazis, daß sie im Moment einen zu großen Schritt gemacht hatten, und ließen nach dem 1. April einen Teil der Maßnahmen wieder fallen. Aber nicht, ohne vorher den vollen Schrecken haben wirken zu lassen. Wieviel sie von ihren eigentlichen Absichten aufgegeben hatten, weiß man inzwischen.

Das Seltsame und Entmutigende freilich war, daß – jenseits des ersten Schreckens – diese erste großzügige Bekundung einer neuen Mordgesinnung in ganz Deutschland eine Flut von

Unterhaltungen und Diskussionen entfesselte – nicht etwa über die Antisemitenfrage, sondern über die »Judenfrage«. Ein Trick, der den Nazis seither auch in vielen anderen »Fragen« und in internationalem Maßstabe geglückt ist: Indem sie irgend jemand – ein Land, ein Volk, eine Menschengruppe – öffentlich mit dem Tode bedrohten, brachten sie es zustande, daß nicht ihre, sondern seine Lebensberechtigung plötzlich allgemein diskutiert – d.h. in Frage gestellt wurde.

Jeder fühlte sich auf einmal bemüßigt und berechtigt, sich eine Meinung über die Juden zu bilden und sie zum besten zu geben. Man machte feine Unterscheidungen zwischen »anständigen« Juden und anderen; wenn die einen, gleichsam zur Rechtfertigung der Juden – Rechtfertigung wofür?

wogegen? – ihre wissenschaftlichen, künstlerischen, medizinischen Leistungen anführten, warfen die anderen ihnen gerade dies vor: Sie hätten Wissenschaft, Kunst, Medizin »überfremdet«.

Überhaupt wurde es schnell allgemein üblich und populär, die Ausübung anständiger und geistig wertvoller Berufe den Juden als Verbrechen oder zum mindesten als Taktlosigkeit anzurechnen. Man hielt den Verteidigern der Juden stirnrunzelnd vor, daß die Juden aber, höchst verwerflicherweise, einen so und so hohen Prozentsatz der Ärzte, Rechtsanwälte, Presseleute usw. stellten. Man liebte überhaupt, die »Judenfrage« mit Prozentrechnung zu entscheiden. Man untersuchte, ob der prozentuale Anteil der Juden an der Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei nicht zu hoch, und der an der Gefallenenzahl des Weltkrieges nicht etwa zu niedrig sei. (Tatsächlich, auch dies letztere habe ich erlebt, von Seiten eines Mannes, der sich zu den »gebildeten Ständen« rechnete und einen Doktortitel führte. Er bewies mir toternst, daß die 12 000 im Weltkrieg gefallenen deutschen Juden in einem geringeren Verhältnis zur Gesamtzahl der deutschen Juden ständen als die entsprechende Zahl bei Ariern, und leitete daraus »eine gewisse Berechtigung« des nazistischen Antisemitismus her.)

Nun ist es wohl heute keinem mehr zweifelhaft, daß in Wahrheit der nazistische Antisemitismus so gut wie nichts mit den Juden, ihren Verdiensten und Fehlern, zu tun hat. Das Interessante an der nachgerade nicht mehr verheimlichten Absicht der Nazis, die Deutschen dazu abzurichten, daß sie die Juden über die ganze Welt hin verfolgen und möglichst ausrotten, ist nicht die Begründung, die sie dafür geben – die ist so unverblümter Nonsens, daß es eine Selbsterniedrigung bedeutet, sie auch nur bekämpfend zu diskutieren – sondern eben diese Absicht selbst. Sie nämlich ist etwas tatsächlich weltgeschichtlich Neues: der Versuch, die Ursolidarität jeder Tiergattung untereinander, die sie allein zum Überleben im Existenzkampf befähigt, innerhalb des Menschengeschlechts außer Kraft zu setzen, die menschlichen Raubtierinstinkte, die sich sonst nur gegen die Tierwelt richten, auf Objekte innerhalb der eigenen Gattung zu lenken, und ein ganzes Volk wie ein Rudel Hunde auf Menschen »scharf zu machen«. Ist erst einmal die grundsätzliche immerwährende Mordbereitschaft gegen Mitmenschen geweckt und sogar zur Pflicht gemacht, so ist es eine Kleinigkeit, die Einzelobjekte zu wechseln. Schon heute zeigt sich ziemlich deutlich, daß man statt »Juden« auch