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»Tschechen«, »Polen« oder irgendetwas anderes setzen kann. Worum es sich hier handelt, ist die systematische Impfung eines ganzen Volkes – des deutschen – mit einem Bazillus, der bewirkt, daß die von ihm Befallenen gegen Mitmenschen wölfisch handeln; oder, anders ausgedrückt, die Entfesselung und Hochzüchtung jener sadistischen Instinkte, deren Niederhaltung und Abtötung das Werk eines vieltausendjährigen Zivilisationsprozesses war. Ich werde in einem späteren Kapitel Gelegenheit haben, zu zeigen, daß große Teile des deutschen Volkes – trotz seiner allgemeinen Schwächung und Entehrung – hiergegen denn doch noch innere Abwehrkräfte aufbringen,

wahrscheinlich aus einem dunklen Instinkt heraus, was hier auf dem Spiel steht. Wäre es anders und sollte dieser Versuch der Nazis – der eigentliche Kern ihrer gesamten Bestrebungen –

tatsächlich gelingen, so würde das freilich zu einer Menschheitskrise allerersten Ranges führen, in der die physische Fortexistenz der Gattung Mensch in Frage gestellt werden würde und in der wahrscheinlich nur noch ungeheuerliche Mittel wie die physische Destruktion aller mit dem Wolfsbazillus Behafteten Rettung bringen könnte.

Man ersieht aus diesem kurzen Aufriß bereits, daß es genau der nazistische Antisemitismus ist, was

– nicht etwa für die Juden – an die letzten Existenzfragen rührt, in die keiner ihrer anderen Programmpunkte hinabreicht. Und man mag daran die ganze Lächerlichkeit jenes in Deutschland noch heute nicht seltenen Standpunktes ermessen, der den Antisemitismus der Nazis als eine kleine Nebensache, allenfalls einen Schönheitsfehler der Bewegung betrachten möchte, den man, je nachdem ob man die Juden mehr oder weniger sympathisch findet, hinnehmen oder bedauern kann, der aber »neben den großen nationalen Fragen natürlich gar nichts bedeutet«. In Wahrheit sind diese

»großen nationalen Fragen« gerade höchst unbedeutender Tageskram, Teilwirren einer vielleicht noch ein paar Dekaden währenden europäischen Übergangsperiode – verglichen mit den

Urgefahren einer Menschheitsdämmerung, die der nazistische Antisemitismus heraufbeschwört.

Wiederum sind das alles Dinge, über die im März 1933 noch keiner völlig klar sah. Aber in diesem Fall darf ich mir zugute halten, daß ich schon damals eine Witterung dafür hatte. Ich spürte deutlich: Was bis dahin geschehen war, war ekelhaft und nichts weiter. Was jetzt begann, hatte etwas Apokalyptisches. Es stellte – ich spürte es an einem Ruck in selten betretenen Gebieten der Seele –

äußerste Fragen; wenn ich diese Fragen auch noch nicht zu benennen wußte.

Zugleich spürte ich mit einem Gefühl, in dem dicht neben dem Schrecken eine gewisse – ja, fast freudige Spannung saß, daß die Dinge jetzt auf mich zukamen. Ich bin, was die Nazis einen »Arier«

nennen; was für Rassen tatsächlich an meiner Person Anteil haben, weiß ich natürlich so wenig wie irgend jemand. Jüdisches Blut ist jedenfalls in den zwei–, dreihundert Jahren, die ich meine Abstammung allenfalls zurückverfolgen kann, in meiner Familie nicht festzustellen. Dennoch habe ich zu der deutsch–jüdischen Welt stets eine stärkere instinktive Affinität gehabt als zu dem durchschnittlich–norddeutschen Typ, in dessen Mitte ich aufgewachsen bin, und meine Beziehungen zu ihr waren alt und eng. Mein ältester und bester Freund war ein Jude. Selbst meine neue kleine Freundin Charlie war eine Jüdin, und, unverkennbar: Ich liebte sie, mit der ich eigentlich immer noch unentschlossen spielte, plötzlich ein wenig heißer und stolzer nun, da das Verderben nach ihr langte.

Ich wußte: Man würde mich nicht veranlassen, sie zu boykottieren.

Ich rief sie noch an demselben Abend an, als die ersten Ankündigungen in der Zeitung standen. Ich sah sie in dieser Woche fast täglich, und unsere Geschichte begann nun wie eine richtige Liebesgeschichte auszusehen. Charlie war freilich, nun, im Alltag, kein Türkenknabe mehr wie damals in der Ballbeleuchtung, sondern eben ein gutes kleines Mädchen aus einer

kleinbürgerlichen, sorgenvollen jüdischen Familie, aus einer unübersichtlichen Welt mit vielen Verwandten. Aber sie war ein kleines, zartes und freundliches Geschöpf, und das Verderben war über ihr. In diesen Wochen liebte ich sie.

Ich erinnere mich einer seltsamen Szene mit ihr aus der letzten Märzwoche, während der Boykott herangrollte. Wir waren in den Grunewald hinausgefahren, es war wundervolles, unnatürlich warmes Frühlingswetter, wie in diesem ganzen März 1933. Unter kleinen Wölkchen, die über einen unbeschreiblich lichten Himmel zogen, zwischen harzig duftenden Kiefern saßen wir auf irgendeinem Mooshügel und küßten uns, wie das musterhafteste kleine Filmliebespaar. Die Welt war überaus friedlich und frühlingshaft. Wir saßen vielleicht ein oder zwei Stunden dort, und wohl alle zehn Minuten kam eine Schulklasse an uns vorüber, es schien ein allgemeiner Schulwandertag zu sein; lauter frische nette Jungen, geführt und behütet jeweils von ihrem Lehrer, der meist einen Zwicker trug oder ein Bärtchen, wie es sich für einen Lehrer geziemt, und treu über seine Schäflein wachte. Und jede dieser Schulklassen, wenn sie an uns vorüber kam, wandte sich uns zu und rief, wie einen fröhlichen Wandergruß, im Chor mit fröhlichen Jungenstimmen: »Juda verrecke!« Vielleicht bezog es sich gar nicht auf uns – ich sehe nicht jüdisch aus, und Charlie, dafür daß sie es war, auch nicht besonders – sondern war wirklich nur als eine nette Grußformel gemeint. Ich weiß es nicht.

Vielleicht auch bezog es sich doch auf uns und sollte eine Aufforderung sein.

Da saß ich »auf dem Frühlingshügel«, ein kleines, zierlich–lebendiges Mädchen im Arm, das ich küßte und streichelte, und immer wieder und wieder zogen muntere wandernde Jungen vorbei und forderten uns auf zu verrecken. Wir taten übrigens nicht dergleichen, und auch sie zogen immer ruhig weiter, unbekümmert darum, daß wir noch nicht verreckten.

Ein surrealistisches Bild.

23

Freitag, der 31. März. Am nächsten Tag sollte es Ernst werden. Ganz glaublich schien es immer noch nicht. Man blätterte die Zeitungen durch, ob sie nicht doch irgendeine Abschwächung enthielten, irgendein Einlenken ins halbwegs Normale und Vorstellbare. Nein, nichts. Nur ein paar weitere Verschärfungen und ruhig–pedantische Einzelanweisungen, wie alles auszuführen sei und wie man sich zu verhalten habe.

Im übrigen business as usual. Den Straßen mit ihrem gleichmäßig–eiligen, geschäftlichen Leben war nicht anzusehen, daß in dieser Stadt irgend etwas Besonderes bevorstehe. Die jüdischen Geschäfte waren offen und verkauften wie immer. Es war heute noch nicht verboten, in ihnen zu kaufen.

Vielmehr erst morgen: morgen früh Schlag 8 Uhr.

Ich ging aufs Kammergericht. Es stand grau, kühl und gelassen wie immer, vornehm abgerückt von der Straße, hinter Rasenflächen und Bäumen. Durch seine weiten Gänge und Hallen huschten wie immer eilig und fledermausartig in ihren wehenden schwarzen Seidentogen die Anwälte, Aktentaschen unter dem Arm, mit gesammelten und korrekten Gesichtern. Die jüdischen Anwälte plädierten ihre Sachen, als wäre dies ein Tag wie alle Tage.