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Ich ging in die Bibliothek, als wäre dies ein Tag wie alle Tage – ich hatte keine Sitzung – und richtete mich an einem der langen Arbeitstische mit einem Aktenstück ein, über das ich ein Gutachten zu machen hatte. Irgendeine komplizierte Sache mit intrikaten Rechtsfragen. Ich schleppte die dicken Kommentarbände auf meinen Platz und umstellte mich mit ihnen, ich schlug

Reichsgerichtsentscheidungen nach, machte Notizen. In dem weiten Raun herrschte – wie alle Tage

– die unhörbar knisternde Stille vielfältiger, gesammelter geistiger Arbeit. Während man mit dem Bleistift auf dem Papier spielte, setzte man die unsichtbaren feinen Hobel und Feilen der juristischen Prozedur an einen Fall, subsummierte, verglich, wog die Bedeutung eines Wortes in irgendeinem Vertrag, untersuchte, welche Tragweite das Reichsgericht irgendeinem Paragraphen gab. Dann ein paar gekritzelte Worte auf einem Blatt Papier – und etwas war geschehen wie ein Schnitt in einer Operation, eine Frage geklärt, ein Element des Urteils gewonnen. Noch nicht die Entscheidung selbst natürlich: »Ist es somit irrelevant, ob der Kläger..., so ist nunmehr zu untersuchen ...« Vorsichtige, genaue, stumme Arbeit. Jeder im Raum vertieft und isoliert in die seine. Selbst die Wachtmeister, halb Amtsdiener, halb Polizeiposten, hatten hier in der Bibliothek einen leisen Gang und eine Tendenz, sich selbst auszulöschen. Es herrschte zugleich die äußerste Stille, und, in dieser Stille, die äußerste Spannung vielfältiger Tätigkeit: Etwas wie ein stummes Konzert. Ich liebte diese Atmosphäre. Sie war sehr dicht und hilfreich. Zu Hause an meinem vereinzelten Schreibtisch hätte ich schwer heute arbeiten können. Hier war es ganz leicht. Die Gedanken konnten hier gar nicht abirren. Man war wie in einer Festung, nein, wie in einer Retorte. Keine Luft von draußen kam herein. Hier gab es keine Revolution.

– Was war das erste auffällige Geräusch? Ein Türenschlagen? Irgendein schriller unartikulierter Ruf, ein Kommando? Auf einmal saß alles aufgeschreckt da, mit dem Ausdruck gespannten Horchens.

Immer noch herrschte vollkommene Stille, aber ihr Wesen war verändert: keine Arbeitsstille mehr, vielmehr die Stille des Schrecks und der Spannung. Draußen in den Gängen hörte man Getrappel, vielschrittiges grobes Laufen die Treppen herauf, dann fernes unentwirrbares Getöse, Rufen, Türenschlagen. Ein paar standen auf, gingen zur Tür, öffneten sie, spähten hinaus und kamen zurück. Ein paar traten zu den Wachtmeistern und sprachen mit ihnen, immer noch gedämpft – in diesem Raum durfte nur gedämpft gesprochen werden. Draußen der Lärm wurde stärker. Einer sagte in die vorhaltende Stille hinein: »SA«. Darauf sagte ein anderer, mit nicht besonders erhobener Stimme: »Die schmeißen die Juden raus«, und zwei oder drei Leute lachten dazu. Dieses Lachen war im Augenblick erschreckender als der Vorgang selbst: Es ließ blitzhaft daran denken, daß ja auch in diesem Raum, wie sonderbar, Nazis saßen.

Allmählich wurde die Unruhe sichtbar – zuerst war sie nur fühlbar gewesen. Die Arbeitenden standen auf, versuchten irgendetwas zueinander zu sagen und gingen langsam und sinnlos hin und her. Ein offenbar jüdischer Herr schlug schweigend seine Bücher zu, stellte sie sorgfältig in die Regale zurück, verstaute seine Akten und ging hinaus. Kurz darauf erschien jemand am Eingang, vielleicht eine Art Oberwachtmeister, und rief laut, aber mit besonnener Stimme, in den Raum: »Die SA ist im Haus. Die jüdischen Herren tun besser, für heute das Haus zu verlassen.« Zugleich hörte man von draußen, wie zur Illustration, rufen: »Juden raus!« Eine Stimme antwortete: »Sind schon raus«, und wieder hörte ich die zwei oder drei Lacher von vorhin kurz und fröhlich aufglucksen. Ich sah sie jetzt.

Es waren Referendare wie ich.

Das Ganze erinnerte plötzlich auf befremdliche Art an das aufgelöste Faschingsfest vor vier Wochen.

Auflösung hier wie dort. Viele packten ihre Mappen und gingen. »Sie dürfen nach Hause gehen«, fiel mir wieder ein. Durften sie noch? Heute war es schon nicht mehr so selbstverständlich. Andere ließen ihre Sachen hier und gingen ins Gebäude, zu sehen, was es zu sehen gab. Die Wachtmeister zeigten noch mehr als sonst in ihrer ganzen Haltung das Bestreben, sich selbst auszulöschen. Einer oder zwei von den Zurückgebliebenen steckten sich eine Zigarette an – hier, in der Bibliothek des Kammergerichts! Und die Wachtmeister schwiegen. Auch das war Revolution.

Die Sightseer erzählten später, was sich im Gebäude abgespielt hatte. Keine Greuelberichte, o durchaus nicht. Es war alles überaus glatt gegangen. Die Sitzungen waren offenbar größtenteils aufgehoben worden. Die Richter hatten ihre Togen ausgezogen und waren bescheiden und zivil aus dem Hause gegangen, die Treppe hinunter flankiert von aufgestellten SA–Leuten. Nur im Anwaltszimmer war es etwas wild zugegangen. Ein jüdischer Anwalt hatte »Menkenke gemacht« und war verprügelt worden. Später hörte ich auch, wer es war: ein Mann, der im Kriege nicht nur fünfmal verwundet worden war und ein Auge verloren hatte, sondern damals auch Hauptmann geworden war; er mochte, zu seinem Schaden, noch die Geste im Instinkt gehabt haben, mit der man Meuterer zur Raison bringt.

Inzwischen erschienen die Eindringlinge auch bei uns. Die Tür wurde aufgerissen, braune Uniformen quollen herein, und einer, offenbar der Anführer, rief mit schallender, strammer Ausruferstimme:

»Nichtarier haben sofort das Lokal zu verlassen!« Es fiel mir auf, daß er den gewählten Ausdruck

»Nichtarier« und den höchst ungewählten Ausdruck »Lokal« verwendete. Wieder antwortete einer, offenbar derselbe wie vorhin: »Sind schon raus.« Unsere Wachtmeister standen in einer Haltung da, als wollten sie die Hand an die Mütze legen. Mir schlug das Herz. Was konnte man tun, wie wahrte man seine Haltung? Ignorieren, sich gar nicht stören lassen! Ich senkte mich auf mein Aktenstück.

Ich las mechanisch irgendwelche Sätze: »Unrichtig, aber auch unerheblich ist die Behauptung des Beklagten ...« Keine Notiz nehmen!

Indem kam eine braune Uniform auf mich zu und machte Front vor mir: »Sind Sie arisch?« Ehe ich mich besinnen konnte, hatte ich geantwortet: »Ja.« Ein prüfender Blick auf meine Nase – und er retirierte. Mir aber Schoß das Blut ins Gesicht. Ich empfand, einen Augenblick zu spät, die Blamage, die Niederlage. Ich hatte »ja« gesagt! Nun ja, ich war ein »Arier«, in Gottes Namen. Ich hatte nicht gelogen. Ich hatte nur viel Schlimmeres geschehen lassen. Welche Demütigung, Unbefugten auf Befragen pünktlich zu erklären, ich sei arisch – worauf ich übrigens keinen Wert legte. Welche Schande, damit zu erkaufen, daß ich hier hinter meinem Aktenstück in Frieden gelassen würde!

Überrumpelt auch jetzt noch! Versagt in der ersten Prüfung! Ich hätte mich ohrfeigen können.

– Als ich das Kammergericht verließ, stand es grau, kühl und gelassen da wie immer, vornehm abgerückt von der Straße hinter seinen Parkbäumen. Man sah ihm keineswegs an, daß es soeben als Institution zusammengebrochen war. Man sah wahrscheinlich auch mir nicht an, daß ich soeben eine furchtbare Schlappe erlitten hatte, eine kaum zu reparierende Demütigung. Ein gut angezogener junger Mann ging ruhig die Potsdamer Straße hinunter. Man sah auch den Straßen nichts an. Business as usual. Und immer noch das Herangrollen des Unbekannten in der Luft ...

24

An diesem Abend hatte ich noch zwei merkwürdige kleine Erlebnisse. Das erste bestand darin, daß ich eine Stunde lang Todesangst um meine kleine Freundin Charlie ausstand. Unbegründete Angst –

aber freilich nicht grundlose.

Der Anlaß war lächerlich genug. Wir verfehlten uns. Ich war vor dem Geschäftshaus mit ihr verabredet, wo sie tagsüber mit irgendwelcher Tipparbeit 100 Mark im Monat verdiente – sie war, wie gesagt, kein Türkenknabe, sondern ein kleines Mädchen aus einer kleinbürgerlichen, sorgenvollen und hart arbeitenden Familie. Das Haus war, um 7 Uhr, als ich ankam, bereits geschlossen und tot, mit abweisenden Rolläden vor den Eingängen. Es war ein jüdisches Haus.