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mitten in Deutschland. In seinen Conferencen kamen die Konzentrationslager vor, die

Haussuchungen, die allgemeine Angst, die allgemeine Lüge; sein Spott darüber hatte etwas unsäglich Leises, Wehmütiges und Betrübtes; und eine ungewöhnliche Trostkraft.

Dieser 31. März 1933 war vielleicht sein größter Abend. Das Haus saß voller Leute, die in den nächsten Tag wie in einen offenen Abgrund starrten. Finck machte sie lachen, wie ich nie ein Publikum lachen gehört habe. Es war ein pathetisches Lachen, das Lachen eines neugeborenen Trotzes, der Betäubung und Verzweiflung hinter sich ließ, und die Gefahr half dieses Lachen nähren

– war es nicht fast ein Wunder, daß die SA nicht schon längst hier war, um das ganze Haus zu verhaften? Wahrscheinlich hätten wir an diesem Abend noch auf dem Grünen Wagen weitergelacht.

Wir waren auf eine unwahrscheinliche Weise über Gefahr und Angst hinweggehoben.

25

Um 10 Uhr früh kam am 1. April 1933 ein Telegramm. »Komm bitte, wenn du kannst. Frank.« Ich verabschiedete mich von meinen Eltern, ein bißchen wie jemand, der in den Krieg zieht, setzte mich auf die Vorortbahn, fuhr nach dem Osten hinaus zu Frank Landau. Er war mein bester und ältester Freund. Wir kannten uns seit der untersten Gymnasialklasse, wir hatten zusammen im »Rennbund Altpreußen« Rennen gelaufen und später in »richtigen« Sportclubs. Wir hatten zusammen studiert und waren jetzt Referendare.

Wir hatten so ziemlich jedes knabenhafte Hobby und jede knabenhafte Schwärmerei gemeinsam gehabt. Wir hatten einander unsere ersten literarischen Versuche vorgelesen, und wir taten dies mit unseren schon ernsthafteren literarischen Bemühungen – Wir fühlten uns beide »eigentlich« mehr als Literaten denn als Referendare. In manchen Jahren hatten wir uns tagtäglich gesehen, und wir waren gewohnt, alles miteinander zu teilen – einschließlich sogar unserer Liebesgeschichten, die wir voreinander ohne das Gefühl der Indiskretion auszubreiten pflegten. In den siebzehn Jahren, die wir uns kannten, hatten wir nicht einen ernsthaften Streit gehabt. Unsere Verschiedenheiten – unter denen die der Abstammung die unbedeutendste war – hatten wir in Jünglingszeiten genießerisch analysiert und hochinteressant gefunden. Sie trennten uns nicht.

Nun also fuhr ich zu ihm hinaus. Sein Vater, bei dem er wohnte, war Arzt und also zu boykottieren.

Ich war neugierig, wie alles aussehen würde.

Es sah wüst, aber innerhalb der Wüstheit eher harmlos aus. Die jüdischen Geschäfte – es gab ziemlich viele in den östlichen Straßen – standen offen, vor den Ladentüren standen breitbeinig aufgepflanzt SA–Leute. An die Schaufenster waren Unflätigkeiten geschmiert, und die Ladeninhaber hatten sich meistens unsichtbar gemacht. Neugieriges Volk lungerte herum, halb ängstlich, halb schadenfroh. Der ganze Vorgang wirkte unbeholfen, so als erwarteten alle noch irgend etwas, wußten aber im Moment nicht recht was. Nach öffentlichem Blutvergießen sah es nicht aus. Ich kam auch unbehelligt in die Wohnung der Landaus. »Sie« kamen anscheinend noch nicht in die Wohnungen, stellte ich mit Beruhigung fest. Frank war nicht da. Sein Vater empfing mich statt seiner, ein breiter, jovialer alter Herr. Er hatte sich öfter mit mir unterhalten, wenn ich da war, hatte sich großmütig nach meiner literarischen Produktion erkundigt, Preisgesänge auf Maupassant angestimmt, den er über alles verehrte, und mich mit einer gewissen Strenge genötigt, viele Spirituosen durchzuprobieren, wobei er meine Feinschmeckerschaft gewissermaßen examinierte.

Heute empfing er mich beleidigt. Er war nicht verstört, nicht ängstlich. Er war beleidigt.

Viele Juden waren es damals noch, und ich beeile mich zu sagen, daß das in meinen Augen außerordentlich für sie spricht. Inzwischen haben die meisten die Kraft dazu verloren. Sie sind zu furchtbar geschlagen. Es ist derselbe Vorgang, wie er sich, auf ein paar Minuten zusammengedrängt, bei den einzelnen abspielt, die in den Konzentrationslagern, auf Blöcke geschnallt, zu Brei geprügelt werden: Der erste Schlag trifft den Stolz und erzeugt ein wildes Aufbäumen der Seele; der zehnte und zwanzigste treffen nur noch den Körper und bringen nichts mehr als ein Wimmern hervor. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hat in sechs Jahren kollektiv und im großen diese Entwicklung durchgemacht.

Der alte Landau war noch nicht zu Brei geschlagen damals. Er war beleidigt – und was mich ein wenig erschreckte, war nur, daß er mich wie einen Gesandten seiner Beleidiger empfing. »Nun, was sagen Sie dazu«, begann er. »Glauben Sie wirklich, ich hätte Greuelnachrichten erfunden und ins Ausland geschickt? Glaubt es irgendeiner von Ihnen?« Mit einer gewissen Erschütterung sah ich, daß er gleichsam zu plädieren sich anschickte. »Wir Juden müßten wirklich dümmer sein, als wir sind, wenn ausgerechnet wir jetzt Greuelberichte ins Ausland schreiben sollten. Als ob wir nicht auch in den Zeitungen gelesen hätten, daß das Briefgeheimnis aufgehoben ist! Die Zeitungen dürfen wir ja sonderbarerweise noch lesen. Glaubt wirklich irgendeiner diesen dummen Schwindel, daß wir Greuelnachrichten fabriziert hätten? Und wenn es keiner glaubt, was soll es dann? Können Sie mir das sagen?«

»Selbstverständlich glaubt es kein vernünftiger Mensch«, sagte ich. »Aber was bedeutet das schon?

Der Tatbestand ist doch einfach der, daß Sie in die Hände von Feinden gefallen sind. Wir alle sind es. Sie haben uns jetzt und machen mit uns, was sie wollen.« Er starrte erbittert vor sich in den Aschenbecher und hörte nur halb zu. »Die Lüge ist es, was mich so aufbringt«, sagte er, »die verdammte, ekelhafte Lüge bei alledem. Sollen sie uns doch umbringen, wenn sie wollen. Ich für meine Person bin alt genug. Aber sie sollen nicht so dreckig lügen dazu. Sagen Sie mir, warum sie das tun!« Er war offenbar doch im Innersten nicht davon abzubringen, daß ich mit den Nazis irgendwie zusammensteckte und um ihre Geheimnisse wußte.

Frau Landau kam dazu, begrüßte mich traurig lächelnd und versuchte mich zu entlasten. »Was fragst du Franks Freund«, sagte sie, »er weiß es doch so wenig wie wir. Er ist doch kein Nationalsozialist.«

(»Nationalsozialist« sagte sie höflich und umständlich.) Ihr Mann aber schüttelte weiter den Kopf, als wollte er alles abschütteln, was wir sagten.

»Das soll mir einer sagen, warum sie lügen«, beharrte er. »Warum sie noch lügen, wo sie doch schon die Macht haben und tun können, was sie wollen. Ich will es wissen.«

»Ich glaube, du mußt nach dem Jungen sehen«, sagte sie. »Er stöhnt so.«

»Um Gottes willen«, sagte ich, »ist Ihr Sohn krank?« Frank hatte noch einen jüngeren Bruder. Von dem war offenbar die Rede.

»Es scheint so«, sagte Frau Landau. »Er hat sich so furchtbar aufgeregt, als er gestern aus der Universität herausgeworfen wurde, und heute übergibt er sich ständig und klagt über

Bauchschmerzen. Es sieht ein bißchen wie Blinddarmentzündung aus, obwohl«, und sie machte einen Versuch zu lächeln, »obwohl ich noch nie gehört habe, daß man Blinddarmentzündung von Aufregung kriegt.«

»Heut passiert vieles, wovon man noch nie gehört hat«, sagte der alte Herr grimmig, indem er sich erhob. Er ging schwerschrittig zur Tür, drehte sich noch einmal um und sagte: »Sie sind doch ein guter Jurist, nicht wahr? Können Sie mir sagen: Macht sich mein Sohn eigentlich strafbar, indem er sich heute von mir untersuchen laßt, statt mich zu boykottieren?«

»Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen«, sagte Frau Landau. »Er kommt noch nicht los davon. Frank muß gleich kommen, wir werden dann Mittag essen.«

Frank kam, er kam mit raschen Schritten ins Zimmer, erklärte sehr ruhig, seine Ruhe hatte etwas überaus Angespanntes und Umsichtiges, wie die Ruhe von Generälen am Kartentisch oder auch von gewissen Geisteskranken, die mit überlegener Konsequenz ihre fixe Idee entwickeln.

»Nett, daß du gekommen bist«, sagte er, »entschuldige, daß ich mich verspätet habe. Es ging nicht anders. Ich möchte dich nachher um verschiedenes bitten. Ich fahre weg.«