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»Wann und wohin?« fragte ich, mit derselben angespannten Ruhe. »Nach Zürich«, sagte er. »Morgen früh, wenn es geht. Mein Vater will es noch nicht, aber ich werde fahren. Es hat hier keinen Zweck mehr für mich. Bei den Vorbereitungen der Abreise mußt du mir helfen.«

Dann wurde zum Essen gerufen. Frau Landau versuchte dabei vergebens, eine normale

Tischunterhaltung zustande zu bringen. Ihr Mann zerstörte sie immer wieder durch Ausbrüche; wir immer wieder durch Schweigsamkeit.

»Nun, hat er's Ihnen schon gesagt, daß er weg will?« fragte Franks Vater übergangslos. »Was sagen Sie dazu?«

»Ich finde es sehr vernünftig«, sagte ich. »Er sollte fortfahren, solange er noch kann. Was soll er noch hier?«

»Dableiben«, sagte der alte Herr. »Nun gerade dableiben und sich nicht wegjagen lassen. Er hat seine Examina gemacht, er hat ein Recht darauf, Richter zu werden.«

»Ich fürchte«, sagte ich, »mit dem Recht ist es vorbei, seit gestern die Kammergerichtsräte vor der SA das Lokal geräumt haben. Wir sind jetzt alle so gut wie Gefangene, und Flucht ist die einzige Art von Tat, die uns übrigbleibt. Ich will auch fort.«

»Sie auch?« fragte Herr Landau. »Warum denn Sie?« Er war offenbar nicht mehr davon abzubringen, daß ich als »Arier« auch ein Nazi geworden war; er mußte wohl zuviel derartiges frisch erfahren haben, um an andere Möglichkeiten zu glauben. Der alte Herr versank in Schweigen. »Ich werde wohl meine beiden Söhne an einem Tag loswerden«, sagte er nach einer Weile.

»Aber Ernst!« rief seine Frau.

»Der Kleine muß operiert werden«, sagte er. »Die schönste akute Blinddarmentzündung. Ich kann's nicht machen. Habe keine sichere Hand heute. Und ob es ein anderer heute tun wird? Soll ich herumtelefonieren und betteln: Ach, Herr Kollege oder nicht mehr Kollege, würden Sie um Gottes willen meinen Jungen operieren – er ist aber Jude?«

»Soundso wird es tun«, sagte Frau Landau. Sie nannte einen Namen, den ich vergessen habe.

»Er sollte schon«, sagte ihr Mann. Er lachte und sagte zu mir: »Wir haben zwei Jahre lang im Feldlazarett miteinander Beine abgesäbelt. Aber weiß man heute?«

»Ich werde ihn anrufen«, sagte Frau Landau. »Er tut's bestimmt.« Sie hielt sich großartig an diesem Tag.

Nach dem Essen gingen wir ein paar Minuten zu dem kranken Jungen. Er lächelte verlegen, als hätte er etwas Dummes angestellt, und unterdrückte immer wieder ein Stöhnen. »Also du fährst weg?«

fragte er seinen Bruder. »Ja.«

Frank sah beklommen aus, als wir aus dem Zimmer traten. »Es ist scheußlich«, sagte ich. »Ja, das ist wirklich scheußlich,« sagte er. »Ich weiß gar nicht, was aus dem Jungen werden soll. Er hält es noch so gar nicht aus, Unrecht mit anzusehen, und er hat keine richtige Vorstellung dafür. Weißt du, was er mir gestern erzählt hat, was er sich wünscht, nach allem? Einmal Hitler das Leben zu retten; und ihm nachher zu sagen: ›So. Ich bin ein Jude. Und jetzt wollen wir uns eine Stunde über alles unterhalten‹.«

Wir gingen in Franks Zimmer. Aufgeklappte Koffer standen herum, und Anzüge waren herausgelegt.

Es war 2 Uhr oder so. »Um sechs muß ich Ellen am Bahnhof Wannsee treffen«, sagte Frank. Ellen war seine Freundin, mit der er sich verloben wollte, um dann gemeinsam mit ihr zu verschwinden. »Bis dahin müssen wir viel tun.«

»Packen?« fragte ich. »Auch«, sagte er. »In der Hauptsache etwas anderes. Ich habe da einen Haufen Zeug – alte Briefe, alte Bilder, alte Tagebücher, Gedichte, Erinnerungen, was weiß ich. Ich möchte es nicht hierlassen. Ich kann es auch nicht mitnehmen. Ich möchte auch nicht gern alles vernichten.

Würdest du es an dich nehmen?«

»Natürlich.«

»Das müssen wir jetzt durchsehen.«

Er schloß ein Schubfach auf. Ein paar große Haufen Papiere, Alben, Diarien lagen darin herum: sein vergangenes Leben. Ein guter Teil davon war zugleich das meine. Frank atmete tief ein und lächelte.

»Wir müssen uns ranhalten, wir haben nicht viel Zeit.«

Und so gingen wir an die Papiere, öffneten die alten Briefe, ließen die alten Fotos durch die Finger gleiten: Das war unsere Jugend, die hier in diesem Schubfach aufbewahrt gelegen hatte. Jeder kennt dieses große Aufräumen, es ist eine Arbeit für regnerische Sonntage, und jeder kennt den tiefwehmütigen Kitzel dieser Totenbeschwörung, die unwiderstehliche Versuchung, noch einmal alles zu lesen, noch einmal alles zu leben. Auch die opiumähnliche Betäubung kennt man, die einen allmählich darüber befällt, das Nachgeben, das Weichwerden.

Wir hatten nur knapp drei Stunden Zeit, und wir hetzten durch unsere Traumländer mit der flackernden Geschwindigkeit, mit der eine Flucht in einem Trickfilm vor sich geht. Auch hatten wir streng zu sein und zu zerstören. Nur das Wertvollste hatte Platz in einer großen Kiste, der Rest mußte zum Papierkorb verurteilt werden.

Zweimal wurden wir unterbrochen. Das eine Mal kam Frau Landau und sagte, der Krankenwagen sei nun unten. Franks Bruder würde zur Operation in eine Klinik gefahren werden. Sie und ihr Mann würden mitfahren. Wenn Frank sich noch von ihm verabschieden wolle, sei es Zeit. Ein merkwürdiger Abschied; der eine Bruder fuhr auf den Operationstisch, der andere in die Verbannung.

»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte Frank und ging mit seiner Mutter hinaus. Er blieb fünf Minuten.

Die andere Unterbrechung erfolgte ungefähr eine Stunde später. Die Wohnung war leer, bis auf uns beide und das Dienstmädchen. Wir hörten es klingeln, und dann klopfte das Dienstmädchen bei uns und sagte, draußen ständen zwei SA–Leute.

Es waren zwei dicke und plumpe Burschen in braunen Hemden und braunen Breeches und

Marschstiefeln; keine SS–Haifische, sondern Leute, die einem sonst einen Kasten Bier ins Haus bringen und nach Empfang eines Trinkgeldes rauhen Dank brummend zwei Finger an die Mütze legen. Ihre neue Stellung und Aufgabe war ihnen sichtlich noch etwas ungewohnt, und sie verdeckten Verlegenheit durch eine gewisse wilde Strammheit.

»Heil Hitler«, riefen sie überlaut im Chor. Pause. Dann fragte der eine, der offenbar ein Übergeordneter war:

»Sind Sie Doktor Landau?«

»Nein«, antwortete Frank. »Sein Sohn.«

»Und Sie?«

»Ich bin ein Freund von Herrn Landau«, sagte ich.

»Und wo ist Ihr Vater?«

»Mit meinem Bruder zur Klinik«, erwiderte Frank. Er sprach sehr gemessen und sparte die Worte.

»Was macht er'n da?«

»Mein Bruder muß operiert werden.«

»Na, denn jeht's ja«, sagte der SA–Mann gemütlich und befriedigt. »Zeigen Sie uns mal das Sprechzimmer.«

»Bitte sehr«, sagte Frank und öffnete die Tür. Die beiden polterten zwischen uns in das Sprechzimmer, das leer, weiß und ordentlich dalag, und blickten streng auf die vielen blitzenden Instrumente.

»Jemand dagewesen heute?« fragte der Wortführer.

»Nein«, sagte Frank.

»Na, denn jeht's ja«, sagte der Wortführer aufs neue. Dies schien sein Spruch zu sein. »Dann zeigen Sie uns mal die anderen Räumlichkeiten.«

Und er polterte mit seinem Kumpan durch die Wohnung, überall mißbilligende und forschende Blicke hemmwerfend, ein wenig wie ein Gerichtsvollzieher, der Pfandstücke aussucht. »Also keiner da sonst«, fragte er schließlich, und nachdem Frank verneint hatte, sagte er zum dritten Maclass="underline" »Na, denn jeht's ja.«

Wir standen wieder am Ausgang, und die beiden zögerten noch etwas, als hätten sie das Gefühl, sie müßten jetzt irgend etwas unternehmen, wüßten aber nicht recht was. Dann, aus dem allgemeinen Schweigen heraus, schrien sie plötzlich wieder, im Chor und mit Stentorstimme: »Heil Hitler!« – und polterten hinaus und die Treppe hinunter. Wir schlossen die Tür hinter ihnen und kehrten schweigend zurück an unser Geschäft.

Die Zeit lief uns davon, und zum Schluß gingen wir immer summarischer vor. Ganze Briefpacken wanderten unangesehen in den Papierkorb. 5 Uhr. Wir schnürten die Kiste zusammen und überblickten unser Zerstörungswerk. Dann gingen wir. Wir setzten uns auf die Stadtbahn und fuhren von Osten nach Berlin hinein und durch die ganze Stadt hindurch und nach Westen wieder hinaus.