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Im Zuge hatten wir zum ersten Mal Zeit zu reden. Aber ein vernünftiges Gespräch wurde es nicht.

Zuviele Leute kamen und gingen und saßen um uns herum, von denen man nicht mehr wissen konnte, ob sie nicht Feinde waren. Auch waren immer wieder noch Dinge zu bedenken, mit denen wir uns selbst unterbrechen mußten – Abmachungen, Bestellungen, Aufträge, die wir uns noch zu geben hatten.

Seine Pläne? Sie waren noch unklar genug. Zunächst wollte er noch einen Schweizer Doktor machen, studieren und mit 200 Mark monatlich leben. (200 Mark monatlich konnte man damals noch hinausschicken!) Im übrigen hatte er irgendeinen Onkel in der Schweiz. Vielleicht, daß er ihm irgendwie helfen könne ... »Zunächst nur raus. Ich fürchte nämlich, lange läßt man uns nicht mehr raus.« Am Bahnhof Wannsee erwartete uns das Mädchen Ellen und präsentierte uns wortlos ein Zeitungsblatt. Es enthielt eine Notiz: »Ausreisevisum eingeführt.« Die Begründung war wieder, glaube ich, daß die Verbreitung von Greuelnachrichten im Ausland verhindert werden solle. »Das sieht verdammt so aus, als ob wir schon in der Falle sitzen«, sagte Frank.

»Vielleicht tritt es noch nicht sofort in Kraft«, sagte ich.

»Egal jedenfalls«, sagte Frank, »wir müssen uns jetzt erst recht beeilen. Vielleicht haben wir noch Glück.«

Wir gingen stumm ein paar Villenstraßen hinunter, an Gärten vorbei, es war still hier und nichts zu sehen, was den Tag verriet, nicht einmal beschmierte Ladenfenster. Ellen hatte sich in Franks Arm gehängt, und ich hatte die Kiste genommen, die seine Hinterlassenschaften barg. Es dämmerte, und ein lauwarmer feiner Regen begann zu fallen. Ich fühlte eine sanfte Betäubung im Kopf. Alle Dinge waren gemildert durch ein tiefes Gefühl von Unwirklichkeit. Darin lag auch freilich wieder etwas Bedrohliches. Wir waren zu plötzlich und zu tief ins Unmögliche geraten, als daß es noch Grenzen gab. Wenn morgen zur Strafe für irgend etwas alle Juden verhaftet wurden oder Selbstmord zu begehen hatten, würde es auch nicht mehr weiter erstaunlich sein. Die SA–Leute würden gemütlich und befriedigt »Na, denn jeht's ja« sagen, wenn man ihnen mitteilen würde, daß alle sich ordnungsgemäß umgebracht hätten. Die Straßen würden genau wie immer aussehen. »Na, denn jeht's ja.«

Ich schrak auf. Wir waren angekommen. Ellens Elternhaus war so voll, daß ich als Fremder gar nicht weiter auffiel. In den großen, schönen Empfangszimmern saßen und standen wohl an die zwanzig Gäste herum, vor allem junge Freunde des Hauses. Ellens Vater, ein runder und freundlicher Herr, zeigte ein Gastgeberlächeln und versuchte vergebens mit Scherzen gegen die gedrückte Stimmung anzukommen. Ellens Mutter begann in einer Ecke eine Diskussion mit Frank über die Meldung von dem Ausreisevisum. »Wenn man wenigstens wüßte, wann es in Kraft tritt!« sagte einer.

»Man müßte mal im Polizeipräsidium anrufen«, schlug ich vor. »Wenn man sich damit nicht gerade ans Messer lieferte«, wandte einer ein. »Man kann ja einen falschen Namen nennen«, sagte ich.

»Übrigens, wenn Sie wollen, ich bin gern bereit dazu.« »Ach ja, wollen Sie das wirklich tun?« rief Ellens Mutter. »Aber bitte, bitte – nicht von unserem Apparat«, setzte sie dann hinzu.

Ich verschwand, um die Telefonzelle gleich um die Ecke aufzusuchen. Am Apparat nannte ich einen falschen Namen. Nach längerer Wartezeit konnte mich schließlich jemand im Polizeipräsidium aufklären. Die Verordnung trat erst am Dienstag in Kraft. »Danke sehr«, sagte ich und hängte mit großer Genugtuung ein.

Als ich zurückkam, war das Zimmer, das ich verlassen hatte, fast leer. Dann steckte die Dame des Hauses ihren Kopf zur Tür herein: »Nun?« fragte sie gespannt, und ich sagte meine gute Nachricht und empfing dafür ihren überschwenglichen Dank. »Jetzt müssen Sie aber auch noch rasch ein Glas Wein mittrinken auf das Glück des jungen Paares«, sagte sie und zog mich fort. »Sie wissen doch schon alles?«

In einem anderen Raum standen Frank und Ellen und empfingen Händedrücke. Sie sahen weder glücklich noch unglücklich aus. Meine Nachricht, daß man noch zwei Tage freie Flucht aus dem Lande hatte, war genau das richtige Verlobungsgeschenk.

Eine halbe Stunde später saß auch ich wieder mit Frank in der Vorortbahn. Unser Abteil war leer. Wir schwiegen. Plötzlich sagte er: »Was hältst du nun von alledem, du hast noch gar nichts gesagt. War es richtig?«

»Auf jeden Fall ist es richtig, daß du morgen fährst. Ich wollte, ich könnte mit.« Wir schwiegen wieder vor uns hin.

Bahnhof Zoo kam näher, wo wir ausstiegen. Zum ersten Mal sah man den Straßen etwas von der Revolution an, freilich nur Negatives: Die hellen, funkelnden Vergnügungsstraßen um den Zoo lagen tot und öde da, wie man sie noch nie gesehen hatte.

»Glückliche Reise«, sagte ich zu ihm, »übersteh diese Nacht gut. Morgen hast du alles hinter dir und bist fort.« Und in diesem Augenblick, zum ersten Mal, erfaßte ich völlig, daß dies ein Abschied war.

ABSCHIED

26

Ehe ich fortfahre, meine Geschichte zu erzählen – die Privatgeschichte eines zufälligen, gewiß nicht besonders interessanten und nicht besonders bedeutenden jungen Menschen aus dem

Deutschland von 1933 –, sei mir eine kleine Verständigung mit dem Leser zugestanden: mit dem

Leser, der, nicht ohne einen Schein von Recht, findet, daß ich sein Interesse an meiner zufälligen, privaten und wirklich nicht allzu bedeutenden Person nachgerade ein wenig überanstrenge.

Täusche ich mich – oder höre ich nicht wirklich an dieser Stelle manchen Leser, der mir soweit Geduld und Wohlwollen geschenkt hat, ein wenig ungeduldig in dem Buche blättern? Ein Blättern, das, in Worte gefaßt, etwa so spricht: »Was soll das alles? Was geht es uns an, daß 1933 in Berlin ein junger Herr XY Angst um seine Freundin hatte, wenn sie zu spät zu einer Verabredung kam, sich ungeistesgegenwärtig gegen SA–Leute benahm, in jüdischen Familien herumlungerte und – wie es in den nächsten Seiten scheint – in Bausch und Bogen Abschied von seinen Kameraden, seinen Lebensplänen und seinen ziemlich konventionellen und ungereiften Anschauungen zu nehmen hatte? 1933 spielten sich doch in Berlin, wie es scheint, Dinge von wirklicher historischer Bedeutung ab. Wenn wir uns schon damit beschäftigen sollen, dann wollen wir wenigstens von diesen Dingen hören: hören, was hinter den Kulissen zwischen Hitler und Blomberg oder Schleicher und Röhm besprochen wurde, wer den Reichstag angesteckt hat, warum Byam floh und Oberfuhren Selbstmord beging – und nicht mit den Privaterlebnissen eines jungen Mannes abgespeist werden, der von alledem nicht viel mehr weiß als unsereiner, obwohl er näher daran war, und der offensichtlich keinen Augenblick in die Ereignisse eingegriffen hat, ja nicht einmal ein besonders eingeweihter Augenzeuge war.«

Eine wuchtige Anklage; ich muß meinen ganzen Mut zusammennehmen, um zu gestehen, daß ich sie dennoch nicht für berechtigt halte, und daß ich tatsächlich auch dem ernsthaften Leser mit meiner Privatgeschichte seine Zeit nicht zu stehlen glaube. Es ist alles wahr: Ich habe in die Ereignisse nicht eingegriffen, ich war nicht einmal ein besonders eingeweihter Augenzeuge, und niemand kann die Bedeutung meiner Person skeptischer einschätzen als ich selber. Und doch glaube ich – und ich bitte, es mir nicht als Anmaßung auszulegen –, daß ich mit der zufälligen und privaten Geschichte meiner zufälligen und privaten Person ein wichtiges, unerzähltes Stück deutscher und europäischer Geschichte erzähle – wichtiger und für alles Zukünftige bedeutsamer, als wenn ich erzählte, wer den Reichstag angesteckt hat und was zwischen Hitler und Röhm nun wirklich gesprochen worden ist.

Was ist Geschichte? Wo spielt sie sich ab?

Liest man eine der normalen Geschichtsdarstellungen – von denen man allzuleicht vergißt, daß sie immer nur den Umriß der Dinge enthalten und nicht die Dinge selbst –, so ist man versucht zu glauben, Geschichte spiele sich zwischen einigen Dutzend Leuten ab, die gerade »die Geschicke der Völker lenken« und deren Entschlüsse und Taten dann das ergeben, was später »Geschichte« heißt.