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Die Geschichte des gegenwärtigen Jahrzehnts erscheint dann etwa wie eine Art Schachtournier zwischen Hitler, Mussolini, Tschiangkaischek, Roosevelt, Chamberlain, Daladier und einigen Dutzend anderen Männern, deren Namen mehr oder weniger in aller Munde sind. Wir anderen, Anonymen, sind, so scheint es, bestenfalls Objekte der Geschichte, Bauern in einer Schachpartie, die vorgeschoben, stehen gelassen, geopfert und geschlagen werden, und deren Leben, falls sie eins haben, sich in einer ganz anderen Welt abspielt, ohne Beziehung zu dem, was auf dem Schachbrett mit ihnen geschieht, auf dem – sie stehen, ohne es zu wissen.

Es mag demgegenüber paradox klingen, aber es ist nichtsdestoweniger eine schlichte Tatsache, daß sich die wirklich zählenden geschichtlichen Ereignisse und Entscheidungen unter uns Anonymen abspielen, in der Brust einer jeden zufälligen und privaten Einzelperson, und daß gegenüber diesen simultanen Massenentscheidungen, von denen ihre Träger oft selbst nichts wissen, die mächtigsten Diktatoren, Minister und Generale vollständig wehrlos sind. Und es ist ein Merkmal dieser entscheidenden Ereignisse, daß sie niemals als Massenerscheinung und Massendemonstration sichtbar werden – sowie die Masse massiert dasteht, ist sie funktionsunfähig –, sondern stets nur als scheinbar privates Erlebnis Tausender und Millionen Einzelner.

Ich spreche hier nicht etwa von irgendwelchen nebelhaften historischen Konstruktionen, sondern von Dingen, deren höchst realen Charakter niemand abstreiten wird. Was, z. B., hat bewirkt, daß 1918 Deutschland den Weltkrieg verlor und die Alliierten ihn gewannen? Ein Fortschritt in der Feldherrnkunst Fochs und Haigs und ein Nachlassen in der Ludendorffs? Keineswegs; sondern die Tatsache, daß »der deutsche Soldat«, also die Mehrzahl einer Masse von anonymen 10 Millionen, plötzlich nicht mehr, wie bisher, willig war, bei jedem Angriff sein Leben einzusetzen und die eigene Stellung bis zum letzten Mann zu halten. Wo hat sich dieser entscheidende Wandel abgespielt?

Keineswegs in geheimen meuterischen Massenzusammenkünften der deutschen Soldaten, sondern unkontrolliert und unkontrollierbar in der Brust jedes Einzelnen von ihnen. Die meisten hätten ihn kaum zu bezeichnen gewußt und einen höchst komplizierten, höchst geschichtsträchtigen seelischen Vorgang höchstens in dem Ausruf »Scheiße« zusammengefaßt. Hätte man diejenigen unter ihnen, die die Gabe der Sprache besaßen, interviewt, so hätte man bei jedem ein Bündel höchst zufälliger, höchst privater (und gewiß auch wenig interessanter und bedeutender) Gedanken, Gefühle und Erlebnisse vorgefunden, in dem Briefe von zu Hause, persönliche Beziehungen zum Feldwebel, Ansichten über das Essen dicht neben Gedanken über Aussichten und Sinn des Krieges und (da jeder Deutsche ein wenig Philosoph ist) über den Sinn und Wert des Lebens gelegen hätten.

Es ist nicht meine Sache, diesen seelischen Vorgang, der den Weltkrieg entschied, hier zu analysieren, aber es dürfte für jeden von Interesse sein, dem daran gelegen ist, solche oder ähnliche Vorgänge früher oder später zu reproduzieren.

Ich habe es aber hier mit einem anderen, vielleicht noch interessanteren, wichtigeren und komplizierteren Vorgang ähnlicher Art zu tun: nämlich mit denjenigen seelischen Bewegungen, Reaktionen und Verwandlungen, die in ihrer Simultanität und Massierung das Dritte Reich Hitlers erst möglich gemacht haben, und die heute seinen unsichtbaren Hintergrund bilden.

In der Entstehungsgeschichte des Dritten Reichs gibt es ein ungelöstes Rätsel, das, wie mir scheint, noch interessanter ist, als die Frage, wer den Reichstag angezündet hat. Das ist die Frage: Wo sind eigentlich die Deutschen geblieben? Noch am 5. März 1933 hat die Mehrheit von ihnen gegen Hitler gewählt. Was ist aus dieser Mehrheit geworden? Ist sie gestorben? Vom Erdboden verschwunden?

Oder, so spät noch, Nazi geworden? Wie konnte es kommen, daß jede merkliche Reaktion von ihrer Seite ausblieb?

Fast jeder meiner Leser wird, von früher her, den einen oder anderen Deutschen kennen, und die meisten werden finden, daß ihre deutschen Bekannten normale, freundliche, zivilisierte Leute sind, Menschen wie jeder andere –abgesehen von ein paar nationalen Eigentümlichkeiten, wie sie auch jeder andere hat. Fast jeder wird, wenn er die Reden hört, die heute in Deutschland heraustönen (und die Taten wahrnimmt, die heute aus Deutschland herausduften), an diese seine Bekannten denken und entgeistert fragen: Was ist mit ihnen? Gehören sie wirklich zu diesem Irrenhaus?

Merken sie nicht, was mit ihnen geschieht –und was in ihrem Namen geschieht? Billigen sie es etwa gar? Was sind das für Leute? Was sollen wir von ihnen halten?

Tatsächlich stecken hinter diesen Unerklärlichkeiten sonderbare seelische Vorgänge und Erfahrungen – höchst seltsame, höchst enthüllende Vorgänge, deren historische Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Mit ihnen habe ich es zu tun. Man kommt ihnen nicht bei, ohne sie dorthin zu verfolgen, wo sie sich abspielen: im privaten Leben, Fühlen und Denken der einzelnen Deutschen.

Sie spielen sich umso mehr dort ab, als ja längst, nach der Räumung des politischen Feldes, der erobernde und gefräßige Staat in die einstigen Privatzonen vorgestoßen ist und auch dort seinen Gegner, den widerspenstigen Menschen, herauszuwerfen und zu unterjochen am Werk ist; dort, im Privatesten, spielt sich heute in Deutschland jener Kampf ab, nach dem man vergeblich mit Fernrohren das politische Feld absucht. Was einer ißt und trinkt, wen er liebt, was er in seiner Freizeit tut, mit wem er sich unterhält, ob er lächelt oder finster aussieht, was er liest und was er sich für Bilder an die Wände hängt – das ist heute die Form, in der in Deutschland politisch gekämpft wird. Das ist das Feld, wo im voraus die Schlachten des künftigen Weltkriegs entschieden werden. Es mag grotesk klingen, aber es ist so.

Deswegen glaube ich, mit meiner scheinbar so privaten und unbedeutenden Geschichte wirklich Geschichte zu erzählen – und vielleicht sogar zukünftige Geschichte. Und deswegen bin ich geradezu froh, in meiner Person einen nicht allzu bedeutenden und hervorstehenden Gegenstand der Darstellung zu haben; wäre er bedeutender, er wäre weniger typisch. Und deswegen hoffe ich schließlich, gerade vor dem ernsthaften Leser, der keine Zeit zu verschenken hat, und von einem Buch, das er liest, wirkliche Information und wirklichen Nutzen erwartet, diese meine intime Chronik vertreten zu können.

Dafür habe ich mich nun freilich vor dem harmloseren Leser, der mir seine Teilnahme

bedingungsloser schenkt und die Geschichte eines seltsamen Lebens unter seltsamen Umständen um ihrer selbst willen zu lesen bereit ist, für diese Abschweifung zu entschuldigen – und für so manchen anderen Einschub, in dem ich es mir nicht versagen kann, schon selbst einige von den Gedankengängen anzuspinnen, die sich, wie mir scheint, an meine Geschichte anspinnen lassen.

Aber wie kann ich mich besser vor ihm entschuldigen, als indem ich rasch wieder zu erzählen anfange!

27

Der 1. April war fürs erste der Höhepunkt der Nazirevolution gewesen. In den nächsten Wochen zeigten die Ereignisse eine Tendenz, sich wieder in die Sphäre der Zeitungsberichte zurückzuziehen.

Gewiß, der Terror ging weiter, die Feste und Aufmärsche gingen weiter, aber nicht mehr ganz im tempo furioso des März. Die Konzentrationslager waren nun eben eine Institution geworden, und man war eingeladen, sich daran zu gewöhnen und seine Zunge zu hüten. Die »Gleichschaltung«, also die Besetzung aller Behörden, Lokalverwaltungen, großen Geschäfte, Verbands– und

Vereinsvorstände mit Nazis, ging weiter, aber jetzt systematisch und auf fast pedantisch–ordentliche Weise, mit Gesetzen und Verordnungen, nicht mehr so sehr mit wilden und unberechenbaren