Выбрать главу

Lebenserfahrung nur ins Leichenschauhaus führten.

Freilich, so ganz wie 1923 war es auch wieder nicht. Der Eintrittspreis war ein wenig höher. Man mußte ein bißchen vorsichtig mit seinen Gedanken und Worten sein, damit man nicht etwa statt ins Justizministerium aus Versehen ins Konzentrationslager kam. So hochgeschwellt und siegesbewußt die Unterhaltungen in den Korridoren des Kammergerichts waren – ein bißchen klangen sie zugleich behindert, ein Unterton von Angst und Mißtrauen fehlte nicht, die Ansichten, die geäußert wurden, klangen ein wenig wie auswendig gelernte Examensantworten, und nicht selten schnappte einer plötzlich ab und sah sich rasch um, ob auch nicht etwa jemand seine Worte falsch aufgefaßt hatte.

Hochgestimmte Jugend, aber ein bißchen hatten alle einen Kloß im Hals. Eines Tages – ich weiß nicht mehr, was ich Ketzerisches geäußert hatte – nahm mich einer meiner Mitreferendare aus dem großen Kreis beiseite und sah mir treu in die Augen. »Ich möchte Sie warnen, Herr Kollege«, sagte er.

»Ich meine es gut mit Ihnen.« Erneuter tiefer Blick in die Augen. »Sie sind Republikaner, nicht wahr?«

Er legte mir gleich beruhigend seine Hand auf den Arm. »Pst, haben Sie keine Angst. Ich bin es auch, im Herzen. Ich freue mich, daß Sie es sind. Aber Sie müssen vorsichtiger sein. Unterschätzen Sie die Faszisten nicht!« (»Faszisten«, sagte er.) »Mit skeptischen Bemerkungen ist heute nichts zu machen.

Damit graben Sie sich nur Ihr eigenes Grab. Glauben Sie nur nicht, daß sich heute gegen die Faszisten etwas ausrichten läßt. Mit offener Opposition schon gar nicht! Glauben Sie mir! Ich kenne die Faszisten vielleicht besser als Sie. Wir Republikaner müssen jetzt mit den Wölfen heulen.«

So die Republikaner.

28

Es war nicht nur das Kammergericht, von dem ich damals Abschied zu nehmen hatte. »Abschied«

war die Parole geworden – durchgehend, radikal und ausnahmslos. Die Welt, in der ich gelebt hatte, löste sich auf, verschwand, wurde unsichtbar, täglich und selbstverständlich, in aller Lautlosigkeit.

Täglich fast konnte man feststellen, daß wieder ein Stück von ihr verschwunden und versunken war: Man sah sich danach um, und es war nicht mehr da. Nie wieder habe ich einen so seltsamen Vorgang erlebt. Es war ähnlich, als ob der Boden, auf dem man steht, ständig und unaufhaltsam unter den Füßen wegrieselt – oder, besser noch: als würde die Atemluft von irgendwoher gleichmäßig und unaufhörlich weggesaugt.

Fast das Harmloseste war, was, sichtbar und augenfällig, in der öffentlichen Sphäre geschah. Gut: Die Parteien verschwanden, wurden aufgelöst; erst die Linksparteien, dann die Rechtsparteien; ich hatte zu keiner gehört. Die Männer, deren Namen man im Munde geführt hatte, deren Bücher man gelesen, deren Reden man diskutiert hatte, verschwanden: in die Emigration oder in die Konzentrationslager; hin und wieder hörte man von einem, er habe »bei der Verhaftung Selbstmord begangen« oder sei »auf der Flucht erschossen«. Irgendwann im Sommer erschien in den Zeitungen eine Liste von 30 oder 40 der bekanntesten wissenschaftlichen und literarischen Namen: Ihre Träger waren zu »Volksverrätern« erklärt, ausgebürgert, geächtet.

Fast unheimlicher war das Verschwinden einer Anzahl ganz harmloser Personen, die aber irgendwie zum täglichen Leben gehört hatten: Der Rundfunkansager, dessen Stimme man täglich gehört hatte, und an den man wie an einen guten Bekannten gewöhnt war, war in einem Konzentrationslager verschwunden, und wehe, wenn man noch seinen Namen in den Mund nahm. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die einen durch die Jahre begleitet hatten, verschwanden von heute auf morgen: Die charmante Carola Neher war plötzlich eine ausgebürgerte Volksverräterin; der junge strahlende Hans Otto, dessen Stern gerade im letzten Winter so glänzend aufgegangen war – in jeder Abendgesellschaft hatte man sich darüber unterhalten, ob dies nun endlich der »neue Matkowski«

sei, auf den die deutsche Bühne so lange wartete –, lag eines Tages zerschmettert im Hof einer SS–

Kaserne: Er habe sich nach seiner Verhaftung »in einem unbewachten Augenblick« aus dem Fenster des vierten Stocks gestürzt, hieß es. Der bekannteste humoristische Pressezeichner, über dessen harmlose Witze ganz Berlin jede Woche lachte, beging Selbstmord. So tat der Conferencier des bekannten Kabaretts. Andere waren einfach weg, und man wußte nicht: waren sie tot, verhaftet, ausgewandert – sie waren verschollen.

Die symbolische Bücherverbrennung im Mai war eine Zeitungsnachricht gewesen, aber wirklich und unheimlich war, daß nun die Bücher aus den Buchhandlungen und Bibliotheken verschwanden. Die lebende deutsche Literatur, so gut oder schlecht sie nun sein mochte, war wegrasiert. Die Bücher des letzten Winters, zu denen man vor April noch nicht gekommen war, würde man nicht mehr lesen.

Ein paar Autoren, die man aus irgendeinem Grunde geduldet hatte, standen einsam wie Kegelkönige im Leeren. Im übrigen gab es nur die Klassiker – und eine plötzlich wild aufschießende Blut– und Bodenliteratur von entsetzlicher und beschämender Qualität. Die Bücherfreunde – gewiß nur eine Minderheit in Deutschland, und, wie sie jetzt täglich hören durften, eine höchst unbeachtliche –

sahen sich über Nacht ihrer Welt beraubt. Und da man sehr schnell begriffen hatte, daß jeder Beraubte obendrein Gefahr lief, bestraft zu werden, fühlten sie sich gleichzeitig sehr eingeschüchtert und schoben ihre Heinrich Manns und Feuchtwangers in die zweite Reihe des Bücherschranks; und wenn sie noch wagten sich über den letzten Joseph Roth oder Wassermann zu unterhalten, steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten wie Verschwörer.

Viele Zeitungen und Zeitschriften verschwanden von den Kiosken – aber viel unheimlicher war, was mit den übrigbleibenden geschah. Man erkannte sie nicht mehr recht wieder. Man ist gewöhnt, mit einer Zeitung wie mit einem Menschen zu verkehren, nicht wahr, man hat im Gefühl, wie sie auf bestimmte Dinge reagieren, was sie sagen und wie sie es sagen wird. Sagt sie plötzlich das Gegenteil von allem, was sie gestern gesagt hat, verleugnet sie sich völlig und zeigt sie dazu ganz entstellte Züge, so entgeht man nicht einem Gefühl von Irrenhaus. Dies geschah. Altdemokratische Intelligenzblätter, wie das »Berliner Tageblatt« oder die »Vossische Zeitung« waren von heute auf morgen in Naziorgane verwandelt; mit ihren alten, besonnenen und gebildeten Stimmen sprachen sie dasselbe aus, was der »Angriff« oder der »Völkische Beobachter« herausschrien und –geiferten.

Später gewöhnte man sich daran und pickte dankbar zwischen den Zeilen des Feuilletons gelegentliche Anspielungen heraus. Das Hauptblatt verleugnete sie stets und strikt.

Nun ja, teilweise hatten die Redaktionen gewechselt. Oft aber versagte diese nahehegende Erklärung. Es gab da etwa eine Zeitschrift mit dem Titel »Die Tat« – ein Organ, dessen Haltung so anspruchsvoll war wie sein Titel. In den letzten Jahren vor 1933 war es fast allgemein gelesen worden; es wurde von einer Gruppe intelligenter und radikaler junger Leute geschrieben, schwelgte mit einer gewissen Eleganz in Weltenwende und Jahrtausendperspektive und war,

selbstverständlich, viel zu vornehm, gebildet und tief, um irgendeiner Partei anzugehören – am wenigsten den Nazis, denen seine Redakteure noch im Februar bescheinigt hatten, daß sie selbstverständlich eine ganz vorübergehende Episode seien. Nun, der Chefredakteur des Blattes hatte sich zu weit vorgewagt, er verlor seinen Posten und entging mit knapper Not dem Tode (heute darf er immerhin wieder Unterhaltungsromane schreiben); die übrige Redaktion aber blieb und war auf einmal vollkommen selbstverständlich und ohne den geringsten Verlust an Eleganz und Jahrtausendperspektive Nazi – sie war es immer gewesen, selbstverständlich, besser, eigentlicher und tiefer als die Nazis selbst. Man staunte in das Blatt hinein: Derselbe Druckspiegel, derselbe Satz, dieselbe großartige Unfehlbarkeitsgeste, dieselben Namen – und das Ganze auf einmal, ohne Wimpernzucken, ein vollblütiges, smartes Naziblatt. Bekehrung? Zynismus? Oder waren die Herren Fried, Eschmann, Wirsing usw. wirklich im Herzen immer gute Nazis gewesen? Wahrscheinlich wußten sie es selbst nicht genau. Übrigens gab man das Rätselraten bald auf. Man war angeekelt und müde, und begnügte sich, Abschied von einem Blatt mehr zu nehmen.