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Schließlich waren diese Abschiede nicht die schmerzlichsten – Abschiede von all den schwer benennbaren, halb unpersönlichen Erscheinungen und Elementen, die zusammen die Atmosphäre eines Zeitalters ausmachen. Man soll sie nicht unterschätzen: Sie reichen hin, um das Leben recht düster zu machen; es ist unangenehm genug, wenn die Luft über einem Land – die allgemeine, öffentliche Luft – Wohlgeruch und Würze verliert und giftig und qualmig wird. Aber diese allgemeine Luft kann man bis zu einem gewissen Grade aussperren, man kann seine Fenster dicht zumachen, und sich in die vier Wände eines ausgesparten Privatlebens zurückziehen. Man kann sich abkapseln, sich Blumen ins Zimmer stellen, und sich auf der Straße Ohren und Nase zuhalten. Die Versuchung, so zu verfahren – viele haben es seither getan – war groß genug, auch bei mir. Gottlob gelang mir der Versuch keinen Augenblick, wenn ich ihn machte. Die Fenster schlossen nicht mehr.

Auch im privatesten Leben wartete Abschied über Abschied auf mich.

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Immerhin: Die Versuchung der Abkapselung ist als Zeiterscheinung wichtig genug, um etwas genauer auf sie einzugehen. Sie hat ihren Anteil an dem psycho–pathologischen Prozeß, der sich seit 1933 in millionenfacher Wiederholung in Deutschland abspielt. Die meisten Deutschen befinden sich heute bekanntlich in einer Gemütsverfassung, die sich für den normalen Betrachter schlechthin als Geisteskrankheit oder mindestens als schwere Hysterie darstellt. Wenn man verstehen will, wie es dazu kommen konnte, muß man sich die Mühe machen, sich in die eigentümliche Lage zu versetzen, in der sich im Sommer 1933 die nichtnazistischen Deutschen – also immer noch die Mehrzahl unter ihnen – fanden, und die schon an sich befremdlichen und perversen Konflikte zu begreifen, in die sie sich gestellt sahen.

Die Lage der nichtnazistischen Deutschen im Sommer 1933 war gewiß eine der schwierigsten, in der sich Menschen befinden können: nämlich ein Zustand völligen und ausweglosen

Überwältigtseins, zusammen mit den Nachwirkungen des Schocks der äußersten Überrumpelung.

Die Nazis hatten uns, auf Gnade und Ungnade, in der Hand. Alle Festungen waren gefallen, jeder kollektive Widerstand war unmöglich geworden, individueller Widerstand nur noch eine Form des Selbstmordes. Wir waren verfolgt bis in die Schlupfwinkel unseres Privatlebens, auf allen Lebensgebieten herrschte Déroute, eine aufgelöste Flucht, von der man nicht wußte, wo sie enden würde. Zugleich wurde man täglich aufgefordert: nicht, sich zu ergeben, sondern: überzulaufen. Ein kleiner Pakt mit dem Teufel – und man gehörte nicht mehr zu den Gefangenen und Gejagten, sondern zu den Siegern und Verfolgern.

Das war die einfachste und gröbste Versuchung. Viele erlagen ihr. Später zeigte sich dann oft, daß sie den Kaufpreis unterschätzt hatten und daß sie dem wirklichen Nazisein nicht gewachsen waren.

Sie laufen heute zu vielen Tausenden in Deutschland herum, die Nazis mit dem schlechten Gewissen, Leute, die an ihrem Parteiabzeichen tragen wie Macbeth an seinem Königspurpur, die, mitgefangen, mitgehangen, eine Gewissenslast nach der andern schultern müssen, vergeblich noch nach Absprungsmöglichkeiten spähen, trinken und Schlafmittel nehmen, nicht mehr nachzudenken wagen, nicht mehr wissen, ob sie das Ende der Nazizeit – ihrer eigenen Zeit! – mehr herbeisehnen oder mehr fürchten sollen, und die, wenn der Tag kommt, ganz bestimmt es nicht werden gewesen sein wollen. Inzwischen aber sind sie der Albdruck der Welt, und tatsächlich ist es ganz unberechenbar, wessen diese Leute in ihrer moralischen und nervösen Zerrüttung etwa noch fähig sind, ehe sie zusammensacken. Ihre Geschichte muß noch geschrieben werden.

Aber die Situation von 1933 barg noch viele andere Versuchungen neben dieser gröbsten; jede einzelne eine Quelle des Wahnsinns und der seelischen Erkrankung für den, der ihr erlag. Der Teufel hat viele Netze: grobe für die groben Seelen, feine für die feineren.

Wer sich weigerte, Nazi zu werden, hatte eine böse Situation vor sich: völlige und aussichtslose Trostlosigkeit; wehrloses Hinnehmen täglicher Beleidigungen und Demütigungen; hilfloses Mitansehen des Unerträglichen; vollkommene Heimatlosigkeit; unqualifiziertes Leiden. Diese Situation hat wieder ihre eigenen Versuchungen: scheinbare Trost– und Erleichterungsmittel, die den Widerhaken des Teufels bergen.

Das eine, bevorzugt von Älteren, war Flucht in die Illusion: am liebsten in die Illusion der Überlegenheit. Die ihr erlagen, klammerten sich an die Züge von Dilettantismus und Anfängerhaftigkeit, die der nazistischen Staatskunst gewiß zunächst anhafteten. Sie bewiesen sich und anderen täglich, daß dies alles unmöglich lange so weitergehen könnte, sie posierten in einer Haltung amüsierten Besserwissens, sie ersparten sich die Wahrnehmung des Teuflischen, indem sie den Blick auf das Kindische hefteten; ihr völliges ohnmächtiges Ausgeliefertsein fälschten sie vor sich selber in überlegen–beobachtendes Abseitsstehen um, und sie fühlten sich völlig beruhigt und getröstet, wenn sie einen neuen Witz oder einen neuen Times–Artikel zitieren konnten. Es waren die Leute, die, zunächst in völliger ruhiger Überzeugtheit, später mit allen Anzeichen der bewußten krampfhaften Selbsttäuschung, von Monat zu Monat das unvermeidliche Ende des Regimes voraussagten. Das Schlimmste kam für sie erst, als das Regime sich sichtbar konsolidierte und als die Erfolge kamen: Hiergegen waren sie nicht gewappnet. Diese Gruppe war es, auf die, in sehr schlauer psychologischer Berechnung, das Trommelfeuer statistischer Prahlereien in den späteren Jahren losgelassen wurde; sie hat tatsächlich die Masse der späten Kapitulierer aus den Jahren 1935 bis 1938 geliefert. Nachdem ihnen ihre krampfhaft gehütete Überlegenheitsgeste unmöglich gemacht worden war, gaben diese Leute in großen Massen auf. Nachdem die Erfolge, die sie immer als unmöglich erklärt hatten, eingetreten waren, bekannten sie sich geschlagen. Zu der Einsicht, daß gerade diese Erfolge das Fürchterliche waren, hatten sie nicht die Kraft. »Aber er hat doch wirklich geschafft, was keiner geschafft hat!« »Genau das ist ja gerade das Schlimme!« »Ach, Sie sind ein alter Paradoxienjäger.« (Gespräch aus dem Jahre 1938. )

Ein paar von ihnen halten noch heute die Fahne hoch und lassen nach allen Niederlagen nicht ab, von Monat zu Monat oder wenigstens von Jahr zu Jahr den unvermeidlichen Zusammenbruch zu prophezeien. Ihre Haltung hat, das muß man zugeben, nachgerade eine gewisse Größe gewonnen, aber freilich auch eine gewisse Schrulligkeit. Das Komische ist, daß sie wahrscheinlich eines Tages, nachdem sie noch ein paar grausame Enttäuschungen durchgestanden haben, Recht behalten werden. Ich sehe sie schon nach dem Sturz der Nazis herumgehen und jedem erzählen, daß sie es gleich und immer gesagt hätten. Freilich werden sie bis dahin tragikomische Figuren geworden sein.

Es gibt eine Art, Recht zu behalten, die blamabel ist und nur dem Gegner zu unverdienter Glorie verhilft. Denken wir an Ludwig XVIII.

Die zweite Gefahr war Verbitterung – masochistische Selbstauslieferung an Haß, Leiden und schrankenlosen Pessimismus. Es ist fast die natürlichste deutsche Reaktion auf Niederlagen. Jeder Deutsche hat in bösen Stunden (seines Privatlebens – oder des nationalen Lebens) mit dieser Versuchung zu kämpfen: ganz und für immer aufzugeben, und sich und die Welt mit einer erschlafften Gleichgültigkeit, die an Bereitwilligkeit grenzt, dem Teufel anheimzustellen; trotzig und böse moralischen Selbstmord zu begehen.